Ich kann dich hier unten singen hören | Kurzgeschichte


Wieder die sich kräuselnde, dunkle Oberfläche des Spiegels, diesmal über mir. Alles ist in Dunkelheit gehüllt – und doch blitzen immer wieder von überall her kurz blaue, kristallartige Lichtkegel auf.
Hier, unter Wasser, auf dem Grund des Ozeans, bedeutet Licht nicht, dass man die Oberfläche sehen kann. Es bedeutet einen kleinen Schritt noch näher an den Tod heran. Die Lichter sind Geister, verirrte Seelen, ertrunken im kalten Nass oder ermordet an seinen Ufern. Dann weggeworfen in ihr dunkles Grab – wie Abfall.

Für mich war es ein Unfall. Ich sollte hier nicht liegen, mit auf den Rücken geketteten Armen. Ich war auf dem Weg an Land. Die See war wild und schien uns einzufordern, für was auch immer jeder einzelne von uns getan hatte. Wir alle, all die Männer auf dem Schiff, waren schuldig. Schuldig der Verbrechen unserer Väter und Vorväter, die wir gezwungen waren immer und immer wieder zu wiederholen. Es waren Flüche, die auf unseren Seelen lasteten. Innerlich schrien wir ob der Ungerechtigkeit: „Ich soll für etwas büßen, was mein Vater getan hat? Er lauerte dieser Dirne im Dunkeln auf, hinter der Ecke, an der sie immer stand!“ Und als der Impuls kam, tief aus seiner Brust, wie ein eigenes, schlagendes Herz, dunkel und spöttisch lachend, schlich er sich an sie heran, hielt ihr mit all seiner Kraft und Brutalität den Mund zu, drehte ihr Gesicht seinem zu und grinste sie an. Ihre Augen waren längst leer, leblos, wie die Augen einer Puppe, denn mit dem Schock wich das Leben aus ihnen. Auch wenn er nicht im nächsten Moment ihre Kehle aufgeschlitzt hätte, wäre ein Teil von ihr für immer gestorben. Schuld waren seine Augen. Die Augen eines Wesens, das sich von Furcht ernährte. Nicht der Moment, in dem das Messer über ihren Hals glitt, ganz sanft und leise und doch tief und tödlich, war der wichtige Moment. Sondern der, in dem ihre Angst vor dem Tod in seine Seele drang, er sie in sich aufnehmen, sie verschlingen, sie sich einverleiben konnte. Es war der Moment, in dem sie wusste, dass sie sterben würde.
Doch wir alle taten es letztlich. Auch wenn es ein Fluch war. Auch wenn das Wesen, welches uns dazu zwang, unser dunkler Begleiter, aus der Vergangenheit kam, es ewig leben und ewig morden würde. Wir trugen die Last der Schuld der Jahrhunderte auf unseren Schultern.
Deswegen lag ich hier. Auf dem Grund des Meeres und meine Knochen gruben sich jeden Tag ein wenig tiefer in den dunklen Schlamm. Es war kein Unfall.

Doch das Meer konnte nicht alles verschlucken und es konnte nicht alle Schuld wegwaschen. Im Spiegel des glitzernden Wassers, der weit über meinen toten Augenhöhlen aufgespannt war und ihn zeigte, ihn, der all das zu verantworten hatte, ihn, den ich so sehr hasste, weil ich ihm mein ganzes Leben gegeben hatte, es weggeworfen hatte – dort in diesem Spiegel sah man auch das Licht hinter der Finsternis. Die Sonne und die Sterne. Und man konnte dein Lied hören, hinter ihm, in ihm und es durchflutete den ganzen Ozean mit seiner Botschaft: die Geschichte davon, wie wir alle uns von den Ketten befreien und zu dir kommen können, schuldfrei sein können, in einem neuen Leben, nicht bestraft werden müssen für die Sünden unserer Väter, nicht uns laben müssen, an den Todesängsten der Menschen, sondern sie alle lieben können, wie uns selbst.

Ich kann dich hier unten singen hören. Und mein knochiger Kiefer wiegt sich sacht in der Strömung des Meeres auf und ab, als würde er mitsingen.
Nach Jahrhunderten kann ich dich hier unten endlich singen hören.

(Dark Passenger, Fragment des Ertrunkenen, Januar 2015)


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