Seit der Veröffentlichung des letzten Teils ist ja nun schon etwas Zeit vergangen. Zuerst möchte ich den Hinweis anbringen, dass es in diesem Teil nicht um das Fasten an sich, sondern nur um Hintergründe und die spirituelle Arbeit gehen wird. Das Fasten wird aber bestimmt in den weiteren Teilen wieder mehr im Mittelpunkt stehen!
Im Schamanismus, geschuldet einer starken Verbindung zur Natur, sind Steine sehr viel mehr als das, wofür wir sie halten. Der normale westliche, zivilisierte Mensch erkennt vielleicht an, dass man Steine sammelt, weil sie als Dekoration taugen oder weil sie womöglich einen ideellen Wert, eine Erinnerung an einen besonderen Moment etwa, mit sich tragen können.
Doch für jemanden, der sich in einem spirituellen Kontext mit der Welt verbinden will, haben sie einen viel greifbareren Wert: sie sind Manifestationen feinstofflicher Energien, Puzzlestücke der impliziten Realität in unserer Welt, Botschaften, Energiekonfigurationen. Und sie suchen uns aus, nicht wir sie. Sie sehen unsere Energiekonfiguration, unsere Ängste, Themen und Traumata, um mit uns zu arbeiten und uns auf steinisch etwas zuzuflüsten und uns ein großes Geschenk zu machen.
Kaum eine andere Manifestation der Welt kann diese Art der Botschaft zu uns tragen. Einerseits in unserem Verständnis gänzlich unbelebt, andererseits vollkommen einzigartig. Kein Pflanzengeist, kein Spirit aus der oberen Welt, kein Krafttier oder spiritueller Begleiter kann unser Sein so deutlich und doch so distanziert aufrütteln, ergänzen, transformieren, so deutlich zu uns sprechen und gleichzeitig schweigen.
Deswegen sind Steine in den Ritualen und Heilungen der verschiedensten Heiler von so großer Bedeutung und deswegen hat jeder Schamane in irgendeiner Art und Weise eine besondere Verbindung zu Steinen. Die Q’ero, deren Weg ich kennengelernt habe, sammeln ‚ihre‘ Steine, also diejenigen, die sie auf ihrem eigenen spirituellen Weg gefunden haben, in ihrer Mesa. Die Mesa ist ein großes, handgewebtes Tuch und enthält allgemein die Ritualgegenstände des Schamanen, weswegen der Begriff auch mit „Altar“ übersetzt wird. In der Praxis ist das jedoch nicht ganz richtig: sie enthält vielmehr den Schamanen selbst, seine Energiekonfiguration in einem kleineren Abbild, als dass sie eine reine Werkzeugsammlung ist.
Nun darf man sich das aber nicht so vorstellen, dass der Schamane durch die Gegend läuft, Steine sammelt, die er hübsch findet und in seine Mesa legt. Wenn ein Stein der Mesa hinzugefügt wird, durchlaufen Stein und Steinsammler zuerst einen Prozess. Ein Stein kommt in unser Leben, wenn wir auf der Suche danach sind und stellt immer eine Art Antwort dar. Und dann beginnt die Bewusstwerdung, das Verknüpfen mit konkreten Themen, das Arbeiten mit dem Stein. Erst wenn klar ist, wer der Stein ist, welches Puzzlestück er repräsentiert, kann entschieden werden, ob er in der Mesa landet, denn dadurch wird er Teil von uns, arbeitet in uns, transformiert etwas und wird immer weiter mit uns arbeiten.
Zusätzlich werden die Steine mit der Zeit zu Werkzeugen der energetischen Arbeit, auch dann, wenn man mit anderen Menschen arbeitet; die Schamanen der Q’ero unterteilen die Steine der Mesa noch einmal auf einer weiteren Ebene, fernab der Themen, in ihre Energien und Funktionen. Beispielsweise werden die Steine noch einmal danach bestimmt, ob sie eher männliche oder weibliche Energien enthalten, ob sie bestimmte Schlüsselrollen in der Mesa übernehmen oder Funktionen wie das Aufspüren von schweren Energien als zusätzliche Eigenschaft haben usw. Dazu kommen dann noch die persönlichen Themen des Schamanen, die wertfrei und mit Distanz betrachtet auch als Katalysatoren für die Themen des Klienten stehen können. Wenn man mit jemandem arbeitet und ihm die eigene Mesa anbietet, um aus ihr intuitiv einen Stein zu wählen, so hat dieser Stein bereits eine Konfiguration, die das Thema des Klienten nicht verfälscht, sondern genauer zeichnet. In einem sich gegenseitig bedingenden katalytischen Prinzip arbeiten zwei Menschen immer, auch im Alltag, miteinander, wenn sie sich treffen. Der Schamane bekommt nur eine zusätzliche Information, die Prämisse sozusagen, durch den ausgewählten Stein und das bewusste Betrachten.
Auf den Spaziergängen durch den Wald bekam ich einige Steine geschenkt. Ich fand es selbst etwas viel, doch genau das war der Ausgangs-Punkt dieses Fastentrips: ich hatte das Gefühl, dass ich an viel zu vielen Themen zu arbeiten hatte und war ungeduldig, wollte sie alle angehen, zumindest aber wollte ich der Welt überlassen, welche Themen heute reif zur Transformation waren.
Die Steine standen für sieben sehr konkrete Themen und ein überspannendes Thema, von dem ich nicht genau wusste, inwieweit es mit den anderen tatsächlich in Zusammenhang stand.
Der große Stein in der Mitte stand für dieses überspannende Thema. Als ich ihn fand, unter dem Baumportal, da war seine Information, dass er mir von der Last meines Vaters erzählen möchte.
Zwei der anderen Steine standen für die allgegenwärtige Bipolarität in meinem Leben, ein Stein für das Licht in mir und einer für die Dunkelheit in mir. Es ist ein Thema, was mich immer begleiten wird, worüber ich vermutlich noch zig Mal schreiben werde, doch auch hier war es wichtig Teil des Sandpaintings zu sein und mit der Last verknüpft zu werden.
Ein Stein stand für die immerwährende Einsamkeit in mir, das Gefühl immer wieder zu einem Einzelgängerdasein gezwungen zu werden, aus irgendeinem Grund, während um mich herum (scheinbar) jeder seinen Platz zwischen den Menschen findet.
Ein weiterer Stein stand für das Thema Finanzen, ein Thema, dem ich immer wenig Raum gegeben hatte in meinem Leben und trotzdem (oder genau deswegen) kostete mich das so unheimlich viel Freiheit, Gesundheit und Leidenschaft.
Zwei Steine standen für die dauernde Energielosigkeit, die Schwere an sich, von der ich das Gefühl hatte, dass sie sich in jeder meiner Zelle festgesetzt hatte und meine Fettschicht (im konkreten, eher aber im übertragenen Sinn), zwei Themen, die sich ihrerseits wieder mit der Last, aber auch mit gesundheitlichen Aspekten verwoben.
Der letzte Stein stand für meine Leidenschaft, für das Künstlerdasein, das viel zu wenig von mir gelebt wurde, aber auch für meine Liebe zum spirituellen Begreifen der Welt und der Arbeit mit ihr. Dafür wie fasziniert ich in Wahrheit von all den spannenden Facetten der Welt war, wie sehr ich sie alle liebte, wie sehr ich die Welt liebte.
Gesundheit an sich war aus irgendeinem Grund diesmal kein Thema und ich konnte mir das nur so erklären, dass es nichts war, was irgendetwas mit meinem Vater zu tun hatte. Gesundheit war eher das Thema meiner Mutter und sollte ein anderes Mal weiter bearbeitet werden. Vermutlich war das auch der Grund dafür, dass das Fasten bisher problemloser und leichter verlief, als das jemals der Fall gewesen war. Mein Zucker machte keinerlei ernstzunehmende Zicken, ich hatte keine Probleme mit dem Kreislauf oder mit Überlkeit und auch sonst war alles super.
Normalerweise ist jedem schamanisch Arbeitenden klar, dass man in so kurzer Zeit nicht alle Themen auf einmal bearbeiten kann, und dass die Welt einen auch niemals für eine solche Mammutaufgabe irgendwohin ruft. Ich ahnte also schon, dass es nicht darum gehen konnte, all diese Themenkomplexe aufzudröseln und zu transformieren. Im Wald der Wandlung, unter dem Baumportal, im Schatten des Rehs, als ich den großen Stein bekam, ahnte ich bereits, dass es hier in erster Linie nicht um irgendwelche Unzufriedenheiten mit mir selbst oder meinem Job, meinem Schlaf, meiner Gesundheit oder meinem Gelangweilt-Sein, wie ich das im ersten Teil beschrieben hatte, ging.
Es ging um meinen Vater, seine Last und um den Fluch des Ertrunkenen, doch noch immer verstand ich den Zusammenhang nicht genau.
Wenn der Punkt gekommen ist, an dem man weiß, dass man alle nötigen Steine für eine Botschaft zusammen hat, dann beginnt man mit der rituellen Arbeit; in diesem Fall ist das das sogenannte Sandpainting, von dem ich in der Vergangenheit schon das ein oder andere Mal gesprochen, es aber nie richtig erklärt hatte, was ich hiermit nachholen möchte:
Der erste Schritt ist, wie schon angedeutet, eine Bewusstwerdung der Themen, die mit jedem einzelnen Stein verknüpft sind. Das ist meistens etwas, was schon im Moment des Findens irgendwo klar ist, kann aber auch erst später ins Bewusstsein dringen: ein Thema, eine Person, eine Begebenheit, eine Erinnerung, eine Meinung, Eine Frage, ein Wunsch, eine Angst, etwas konkretes oder etwas abstraktes, ein ganzer Themenkomplex sogar. Diese Phase der Bewusstwerdung ist wichtig, denn sie ist die Basis dafür, dass man die Antworten der Welt richtig zuordnet. Trotzdem kann man die Klarheit des Themas nicht erzwingen, wie das bei jeglicher spiritueller Arbeit ist.
Diese Bewusstwerdung kann ein wenig dauern und erst wenn klar ist, welches Puzzlestück ein Stein repräsentiert, sollte dieser Teil eines Sandpaintings werden. Das ist aber keine unumstößliche Regel.
Das Sandpainting selbst stellt dann einen kreativen Prozess dar, was für die meisten Rituale eine sehr unterschätzte Basis ist: Kreative Schöpfung ist ein Akt der Liebe, der Zuwendung, der Reinheit und enthält soviel Manifestationsenergie, dass es sich auf die implizite Realität auswirken kann. Daher kommt in meinen Augen auch die Macht der Kunst, besonders über den Geist des Künstlers.
Beim Sandpainting selbst entwickelt man mit der Zeit seine eigene Abfolge; grundsätzlich gesprochen ordnet man die Steine in irgendeiner Form an einem Platz an, der einen dafür gerufen hat. Man versucht ein Bild mit seinen Steinen zu malen und dabei die Natur mit einzubeziehen: Begrenzungen aus Zweigen, andere herumliegende und „bedeutungslose“ Steine, Blüten, Blätter, Nüsse, Früchte, Tannenzapfen, der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Auch rationale Mechanismen, die versuchen werden die Themen so anzuordnen, wie man meint, dass es sich aktuell verhält, sind erlaubt, ja sogar erwünscht, denn sie sind in dieser Situation Teil der Bewusstwerdung. Sie sind die explizite Realität, nachgebaut in einer Miniatur.
Unnötig zu erwähnen, dass dieses Ritual optimalerweise die üblichen Rahmenhandlungen verlangt: öffnen des heiligen Raums, Meditation, vielleicht eine schamanische Reise, Rasseln, Trommeln usw.
Und dann überlässt man das Sandpainting der Welt. Ein bisschen ist hier auch der Orakel-Gedanke dabei. Man besucht es immer wieder, schaut sich an, wie die Welt auf dieses Konglomerat an Themen und Verbindungen reagiert, meditiert darüber, dankt der Welt für die Beachtung und kommt irgendwann wieder um es aufzulösen.
Bei mir war dieser Moment nach vier Tagen gekommen.
Beim Auflösen des Sandpaintings geht man ein letztes Mal in das Bild, welches man gezeichnet hat und welches die Welt in der Zeit seitdem verändert hatte. Man versucht zu erkennen, wie die Welt auf ihre eigenen Botschaften, von einem selbst als Ratsuchender wieder an die Welt zurückgesandt, reagiert. Man interpretiert also die Antwort auf Kontext-Präsentation der Antwort auf eine mehr oder weniger unbestimmte Frage. Diese Antwort kann alles mögliche sein. Sie kann dir sagen, dass der Stein nun in deine Mesa muss, dass du weiter mit ihm arbeiten musst, dass er weiterhin Teil deiner Energiekonfiguration sein wird, sie kann dir aber auch sagen, dass es Zeit ist, diesen oder jenen Stein an eine Transformationsenergie zu geben, ihn ins Wasser zu bringen, ihn zu vergraben, ihn auf einen Berg in den Wind zu legen oder ihn ins Feuer zu werfen. Vielleicht gibt es keine Botschaft und du sollst du ihn erst mal weiter bei dir tragen, vielleicht unter dein Kopfkissen legen, um einen Traum zu haben. Vielleicht soll er ausgetauscht werden, nachdem er in Transformation ging. So oder so: es ist eine immerwährende Arbeit, ein immerwährender Prozess, eine immerwährende Transformation, genauso wie auch das Thema des Steins in dir immerwährend ist.
Ich sah in meinem Sandpainting und seiner Entwicklung ganz klar die Antwort, dass fast alle Themen, die ich um den großen Stein gebildet hatte, irgendwie ein Teilaspekt dieser Energie waren, es also durchaus Sinn ergab, dass mich so viele Steine gefunden hatten. Ich wusste, ich würde all die Themen nicht hier transformieren, sondern weiter mit ihnen arbeiten, doch ich würde ihre Ursprungsenergie angehen müssen.
Als ich eines Tages in der brennenden Sonne unter der Weichsel-Kirsche vor dem Sandpainting saß, es war sein zweiter Tag, und in Gedanken versunken war, da kam die Erkenntnis über den großen Sinn dieser Reise neben all den kleinen Puzzlestücken zu mir.
Mein Vater saß in diesem Moment alleine in seinem kleinen Häuschen, um das ein großer, verwildeter Garten wucherte, und hasste die Welt und die Menschen. Seit Jahrzehnten war er alleine und im Krieg mit der Welt, ein stiller Krieg, den er mit Missgunst, Sabotage, Intrigen und unterschwelliger Verachtung führte.
Noch bevor ich geboren wurde, hatte er meine Mutter und mich verlassen. Zusätzlich zweifelte er die Vaterschaft an und zog damit vor Gericht. In meiner Kindheit gab es keine männliche Bezugsperson, denn meine Mutter projezierte all ihren Hass auf ihn auf alle anderen Männer und hatte sich zur Aufgabe gemacht mich zum Mittelpunkt ihres Lebens zu machen. Natürlich schaffte sie das nicht zu 100% und die ein oder andere männliche Energie gab es dann doch noch in unserem Leben. Fragte ich aber nach meinem Vater, erzählte sie mir, dass er tot sei, und ich wollte niemand anderes akzeptieren. Gleichzeitig versuchte sie immer weiter eine höchstgradig gestörte Beziehung zu mir aufrechtzuerhalten, nur sie und ich gegen den Rest der Welt, ohne dass ich das richtig verstehen konnte. Diesen Aspekt meiner Vergangenheit, die Beziehung zu meiner Mutter, habe ich bereits in vielen Texten (vor allem im Dark Passenger und hier z.B. in der Geschichte Der Ruf der Wüste) verarbeitet und er wird auf jeden Fall hier noch einmal konkreter Teil der einen oder anderen Geschichte sein. Für meine Mutter war ich das Heilmittel ihrer Depression, welches die Welt nicht als Lösung akzeptierte.
Als meine Mutter (ich war sieben Jahre alt) schließlich verstarb, bemühte sich mein Vater, nachdem einige Zeit vergangen war, um das Sorgerecht. Das Jugendamt, das zum Einen einen Vormund stellte, zum Anderen versuchte das Testament meiner Mutter zu wahren, indem sie einen alten Freund von ihr (der am meisten einer Vaterfigur ähnelte) zum Vormund bestimmte und sich gleichzeitig um eine Pflegefamilie kümmerte, die sich um mich bemühte, entschied jedoch, dass ich nicht dafür bereit wäre zu erfahren, dass mein Vater noch lebte.
Der Aufbau des Kontaktes zu ihm gestaltete sich als schwierig. Er war ungeduldig und der Meinung, dass ich sofort ohne wenn und aber zu ihm kommen sollte, doch auch damals schon war er alt, vereinsamt und eigenbrödlerisch. Als ich schließlich mit der neu eröffneten Information klarkam (soweit das überhaupt möglich war; ein Ergebnis dieses Konflikts war meine Autoimmunerkrankung), dass mein Vater noch lebte und sich drei Parteien um mich stritten, da war es meinem Vater schon zu lange zwischen dem Jugendamt, dem Psychologen, in dessen Behandlung ich damals war und mir hin- und hergegangen. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden ihn zu treffen, wollte erstmal einen Briefkontakt aufbauen, doch er lehnte das ab und das Protokoll des Jugendamtes (das ich vor etwa 5 Jahren erhalten habe) dieses Momentes schildert eindrucksvoll sein Wesen, um welches es mir hier im Kern geht:
Am 30.12.1994 kam Hr. xxx hierher ins Amt.
Er teilte mir mit, daß mit dem Brief schreiben und Bildchen schicken eben alles schon mal gewesen sei und nach genauerem Nachfragen verwickelte er sich in Widersprüche.
Schließlich sagte er, daß er annimmt, daß er nicht der Vater von Alexander sei und daß er nichts mehr machen wolle.
Er stand dann auf und verließ das Zimmer.
Dramaturgisch interessant ist, dass die komplette Akte des Jugendamtes zu meinem Fall (ein ganzer Ordner mit X Seiten) hier zuende ist.
Mein Vater schmollte daraufhin.
Vor einigen Jahren schrieb mir eine damalige Freundin meines Vaters einen Brief und durch sie lernte ich ihn, nach etwa 25 Jahren, doch endlich einmal kennen.
Vom ersten Moment an erkannte ich in ihm eine alte und verbitterte Version meiner Selbst. Er war beinahe 50 Jahre älter als ich und in den letzten Jahren merkte ich immer mehr, dass ich immer wieder an einen Punkt kam, der die Gefahr in sich barg genau wie er zu enden. „Zu enden“ klingt vielleicht gemein, doch das war immer das große Problem meines Vaters: sein Leben stand von Anfang an unter einem traurigen Stern, doch ging vollends in die Brüche, als er mich und meine Mutter verließ. Er konnte sich selbst nie verzeihen und trug einen ewigen Hass auf meine Mutter und mich mit sich herum. Wir hatten ihn betrogen. Sie hatte ihn benutzt, für das Kind, mehr wollte sie nicht, das war immer seine große Überzeugung gewesen und traurigerweise hatte er damit nicht ganz Unrecht.
Nachdem wir uns ein paarmal getroffen hatten, wurde immer deutlicher, dass er keine Chance in sich sah, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Er warf mir, meinem 13-jährigen Ich, noch immer vor, mich nicht für ihn entschieden zu haben und er verlor kein einziges gutes Wort über meine Mutter. Ich konnte ihn teilweise verstehen, denn das Jugendamt hatte ihn bestimmt nicht mit Samthandschuhen angefasst, ihn lange zappeln lassen, bevor es mir überhaupt eröffnet hatte, dass er noch lebte und für ihn war das sicherlich keine einfache Zeit. Doch besonders schlimm wurde es für mich, als er mir vorwarf, ich würde ihn mit allem, was ich über mein Leben erzählte, nur belügen. Er glaubte mir nicht, dass ich studieren würde, er glaubte mir nicht, dass ich einen Job hatte und er glaubte mir nicht, dass ich eine Wohnung hatte. Er glaubte, ich müsste in der Gosse verschwunden sein, nach dem, was mir passiert war. Er hatte mich all die Jahre als Junkie auf dem Bahnhofsklo gesehen, konnte und wollte nicht wahrhaben, dass ich irgendwie die Kurve gekriegt hatte, ohne ihn, oder vielleicht auch mit der Ahnung, dass ich es mindestens genauso schwer haben müsste wie er, da wir uns die gleiche dunkle Energie teilten. Es war, als schrie ihm meine Lebens-Situation ins Gesicht, dass er von Anfang an unwichtig und unnötig gewesen war. Sein schlechtes Gewissen uns verlassen zu haben, seine Pein darüber, alleine in seinem eigenen Haus zu sitzen, während meine Mutter und ich zeitweise sogar auf der Straße standen und von Sozialwohnung zu Sozialwohnung springen mussten, all das war plötzlich ohne Bedeutung gewesen.
Er rief bei der Uni an und fragte dort, ob ich wirklich studieren würde, er spionierte mir hinterher, stellte alles in Frage, was ich sagte, er beschwerte sich über alles, was ich tat und sabotierte den Kontakt, blieb aber trotzdem fordernd. Ich brach den Kontakt daraufhin ab, ohne eine letzte Konfrontation mit ihm zu suchen, wie ich leider gestehen muss.
Eines der letzten Male als wir uns sahen, gab er mir einen Einblick in sein Herz, bevor der Kontakt von ihm korrumpiert wurde, und ich vermute, dass es dieses Treffen war, was in ihm den letzten großen Widerstand ausgelöst hatte.
Wir saßen bei ihm am Küchentisch. Ich war das erste Mal im Inneren des Hauses gewesen, denn es war dort ein solches Chaos mit geradezu messiegleichen Zuständen, dass er normalerweise niemanden hineinließ. Überall lagen Stapelweise Zeitungen und Zeitschriften, Kartons, Ramsch und Müll.
Er hatte gerade Streit mit seiner Freundin, die ein paar Monate zuvor für unser erstes Treffen gesorgt hatte. Sie hatte ihm einen Brief geschrieben und dieser lag – noch im Umschlag, ungeöffnet – auf dem Tisch.
Ich hatte mich ein paarmal mit ihr auch alleine getroffen zu der Zeit, denn auch sie hatte es nicht leicht mit ihm, und wir hatten eine Art von Gemeinsamkeit darin gefunden, gezwungenermaßen mit meinem Vater verbunden zu sein (wobei ich das nicht ganz so sehe; sie war immer der Meinung gewesen, ich hätte die Pflicht mich mit ihm gutzustellen, des Erbes wegen, doch das halte ich für Quatsch).
„Seid ihr immer noch zerstritten? Was schreibt sie dir?“, fragte ich ihn und nickte in Richtung des Briefumschlags.
Er winkte ab und sagte: „Das öffne ich nicht. Schau mal“, er nahm den Umschlag und hielt ihn mir hin. Er war nicht direkt an ihn adressiert, sondern an seine Katzen. „Wenn sie meinen Katzen schreibt, muss ich das ja wohl nicht aufmachen.“
Sturkopf, dachte ich mir und fragte: „Was ist überhaupt passiert?“
Er erzählte mir, dass er krank gewesen war, sie hatte ihn angerufen und irgendetwas gesagt, was ihm nicht gepasst hatte. Da hatte er den Kontakt abgebrochen.
Ich war genauso. Wie oft mir soetwas schon passiert war.
Ohne dass wir das Thema gewechselt hatten, holte er einen anderen Briefumschlag aus einer kleinen Schublade unter dem Tisch hervor. Er gab ihn mir und erzählte, dieser Brief sei von seiner großen Liebe gewesen.
Ich las ihn und mir war klar, dass niemand bis auf ihn das jemals gelesen hatte. Der Brief war merkwürdig und mir lief es schon beim Lesen kalt den Rücken hinunter: Es war ein Abschiedsbrief, doch eigentlich nicht für lange. Sie erzählte, dass sie jetzt für ein paar Tage im Urlaub sein würde, aber dann wurde sie so melancholisch, zwei Seiten lang, und gestand ihm ihre Liebe, so als würden sie sich niemals wiedersehen.
Auf der Fahrt zu ihrem Urlaubsort hatte sie einen tödlichen Autounfall und retrospektiv ergab der Brief plötzlich Sinn.
Sollte es vorher in meinem Vater noch einen Funken Wunsch nach einem normalen Leben unter den Menschen gegeben haben, so wurde dieser mit dem Tod dieser seiner großen Liebe endgültig zerstört. Sie war die Führung gewesen, der er sich anvertraut hatte, um aus dem Chaos mit meiner Mutter, mir und seiner Vergangeheit herauszukommen.
Ich hatte immer gedacht, nach all den Puzzlestücken der letzten Jahre, besonders nachdem ich meinen Vater nun endlich getroffen hatte und damit besser einschätzen konnte, was seine Energie in mir war, dass es eben seine Energie war. Dass er der Dark Passenger, die Last, die Schwere des Ozeans war und er es an mich weitervererbt hatte. Besonders nach den Erkenntnissen vom Fasten 2015 (Fastenhistorie 2015 Teil 2 – In Arbeit!) glaubte ich das.
Hier, im Licht der Sonne, vor dem Sandpainting, das mir offenbarte, dass es hier in Holzhau in irgendeiner Art und Weise um die Last des Ertrunkenen ging, begriff ich plötzlich, dass es sich anders verhielt:
Ich stand diesen Gefühlen von Abtrennung und Alleinsein und sich-zurückziehen-wollen nicht deswegen gegenüber, weil ich wie mein Vater war – sowohl mein Vater als auch ich enthielten die Energiekonfiguration des Vorlebens des Ertrunkenen. In der energetischen Welt existiert Zeit nicht. Die Kausalitätskette war nicht Ertrunkener –> Mein Vater –> Ich. Wir alle existierten gleichzeitig und bedingten uns auf einer zeitlosen Ebene gegenseitig. Das Thema meines Vaters war nicht deswegen mein Thema, weil er es mir weitergegeben hatte, sondern weil wir es beide vom Ertrunkenen vererbt bekommen hatten.
Ich war nicht hier, um daran zu arbeiten, dass ich der Sohn meines Vaters war. Ich war hier um eine Heilung zu machen, für mich, für ihn, aber in erster Linie für den Ertrunkenen. Ich sollte den Ertrunkenen, dessen Namen ich noch immer nicht kannte, als das betrachten, was er war: ein eigenständiges Wesen, das als Imprint sowohl in meinem als auch im Energiefeld meines Vaters existierte und welches Ausgleich und Transformation anstrebte und sich genau wie jedes andere Wesen Heilung ersehnte.
Ich öffnete die Augen, erwachte aus meinen Gedanken an meinen Vater und meine Vergangenheit und wusste plötzlich: ich war hier um ein Despacho für den Ertrunkenen zu machen und alle Themen in mir, die an ihm und seinem Schicksal hingen, sollten zwar Teil davon sein (weswegen ich all diese Steine zur Weiterarbeit bekommen hatte), doch waren sie nicht der Grund für meine Reise.
Als ich das verstand, verdunkelte sich plötzlich kurz der Himmel. Nur wenige Meter über mir flog ein riesiger, schwarzer Vogel quer über die Wiese, direkt über mich hinweg und ließ mich staunend zurück; es war ein Tier gewesen, dem ich bisher noch nie begegnet war und das ich erst gar nicht zuordnen konnte. Es sah aus wie ein großer Reiher, doch seine Unterseite war beinahe komplett schwarz und auf seiner Brust bildete sich ein klar kontrastiertes, weißes Dreick ab. Es war ein Schwarzstorch gewesen und ob der Symbolkraft dieser Begegnung in genau diesem Moment der Erkenntnis liefen mir einige Tränen die Wangen hinab.
Ein weiterer Blitz leuchtete in meinem Geist auf und ich erinnerte mich plötzlich plastisch an einen Traum, den ich wohl die Nacht zuvor gehabt hatte. Jetzt, da ich wusste, dass ich wegen dem Despacho für den Ertrunkenen hier war, bekam ich noch weitere Informationen, die wohl für die zusammenhängenden Themen und den Prozess wichtig sein sollten.
Die Steine waren noch nicht mit mir ‚fertig‘. Ein bisschen was gab es also noch zu tun, bevor das Despacho brennen konnte.
~ Fortsetzung folgt ~
Zu den anderen Teilen der Fastengeschichte geht es hier:
Teil 1: Eine Fastengeschichte – Große Erwartungen
Teil 2: Eine Fastengeschichte – Im Wald der Wandlung
Teil 3: Eine Fastengeschichte – Stille
Teil 4: Eine Fastengeschichte – Lebendige Steine
Teil 5: Eine Fastengeschichte – Licht und Dunkelheit
Teil 6: Fastentagebuch 2016 – Das Despacho (In Arbeit)
Teil 7: Fastentagebuch 2016 – Chaos und Ordnung (In Arbeit)
Teil 8: Fastentagebuch 2016 – Retrospektive (In Arbeit)
Zu meinen Fastenhistorien:
Teil 1: Fastenhistorie 2012
Teil 2: Fastenhistorie 2013
Teil 3: Fastenhistorie 2014
Teil 4: Fastenhistorie 2015 – Teil 1
Teil 5: Fastenhistorie 2015 – Teil 2 (In Arbeit)
Teil 6: Fastenhistorie 2016 (In Arbeit)
Teil 7: Fastenhistorie 2017 – Teil 1 (In Arbeit)
Teil 8: Fastenhistorie 2017 – Teil 2: Trockenfasten (In Arbeit)
Teil 9: Fastenhistorie 2018 (In Arbeit)
Teil 10: Fastenhistorie 2019: 28 Tage Fasten (In Arbeit)
Fastentheorie:
Teil 1: Fastentheorie
Teil 2: Fasten und Sauna