Ödnis | Poetisches Fragment 6


Ich ertrinke in eurer Ödnis. Eure schwarz-weiß-schattierte Welt, die nur so vor Langeweile trieft. Eure Herzen sind leer und eure Gedanken schwer, eure Träume grau und eure Leidenschaft verkümmert. Eure Liebe brennt nur noch für Dinge, für das Haben, nicht mehr für das Sein. Kein Stein, kein Käfer, keine Blume kann euch mehr entzücken, verzücken, verzaubern, entrücken, aufbrechen oder eure Liebe wecken. Und irgendwo in der unendlichen Weite des Universums weint eine Seele, die mit euch verbunden ist, um ihr verlorenes Schicksal, um ihre Leidenschaft, um all die Abenteuer, die sie erleben könnte, wollte und sollte, um all die Gefühle, die wie Farbkleckse das Bild einer Welt voller Wunder und Gefahren zeichnen, Puzzlestück für Puzzlestück, eine Komposition aus Angst und Liebe, aus Leid und Freude.

Die Tränen der Seele verbrennen in den heißen Koronen der Sonnen, die sie umkreisen, tropfen aus leeren, beinahe toten Augen, in denen sich nur noch ein letzter Abglanz der Wunder der Universen spiegelt. Alles, was war, alles, was ist, verflüchtigt sich immer weiter, lässt nur Ödnis, verbranntes Land und pure Langeweile zurück. Eure Langweiligkeit ödet mich an, kotzt mich an, stößt mich ab. Eure Zyklen, die immer gleichen Worte, die immer gleichen Gedanken, die immer gleichen Dinge, alles wiederholt sich in euch unendliche Male, ist nur das tausendste Fraktal aus purer, gähnender Langeweile, eintönig, gleichförmig, monoton und trostlos. Tiefer tauchen, die gleiche Ödnis, höher Schwingen, die gleiche Fadheit. Keine Farben. Kein Leben. Keine Sehnsucht. Keine Liebe.

Das zehnte Mal die gleiche Beziehung.
Das hundertste Mal das gleiche Lied.
Das tausendste Mal die gleiche Erkenntnis.
Das millionste Mal der gleiche Zorn, der gleiche Blick, der gleiche Krieg, der gleiche Ton, das gleiche Wort, der gleiche Fick, der gleiche Streit. Das gleiche graue, einfältige, zusammengefaltete Stück Papier, auf dem nichts anderes als ein schwarzer, reizloser, trauriger Klecks vertrockneter Tinte zu sehen ist: Ein Kontoauszug. Eine Steuererklärung. Eine Bewerbung. Eine Kündigung. Ein Liebesbrief. Ein Abschiedsbrief.

Schreie, um die Stille zu übertönen. Licht, um die Dunkelheit zu vertreiben. Arbeiten, um zu vergessen, woher ihr kommt, wer ihr seid, womit ihr verbunden seid. Spuckt eurem Schicksal ins Gesicht und vergewaltigt eure Seele. Für Geld, Macht, Reichtum, damit das Leid versiegt, damit ihr weiter in Ketten gelegte Sklaven des unendlichen Wachstums sein dürft.
Immer weiter, weiter, weiter, rundherum in eurer Zelle, in eurem Käfig, in dem ihr euch gegenseitig einredet, dass ihr niemals fliegen konntet, es nie können werdet, dass die Realität hinter den Gitterstäben zu einer glibbrigen Masse aus purer Angst zerfließen würde, die Freiheit eure Existenz auffressen würde, welche nur noch aus Zahlen besteht: Je mehr Nullen auf dem Konto, desto wertvoller ist euch eure Ödnis. Am Ende ist es doch nur grauer Sand, eine farblose Tristesse, die durch eure eigenen zitternden, greisen Hände rinnt und sich mit den Tränen eurer Seele zu Matsch vermischt.

Wenn alle Tränen eurer Seele geweint und verdampft sind, all ihre Hoffnung endlich aufgegeben wurde und sie sich mit eurer Ödnis abgefunden hat, das Glitzern der Sterne am Firmament und auch in ihren Augen verloschen ist, dann könnt ihr endlich sterben. Dann hat die Ödnis endlich ein Ende und ihr werdet erkennen, was Farben sind, was eintauchen wirklich bedeutet und vielleicht werdet ihr dann euer Schicksal erfüllen.


 


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6 Gedanken zu “Ödnis | Poetisches Fragment

  • RhinoRider

    Der Anfang gefällt mir besonders gut. Durch die vielen Reime liest es sich ganz toll, fast wie ein Gedicht.
    Mit Abstand am geilsten ist jedoch der Satz “ Je mehr Nullen auf dem Konto, desto wertvoller ist euch eure Ödnis “
    Vielleicht druck ich mir das aus uns häng es bei mir im Büro auf :-)

    • Alex Autor des Beitrags

      Dankeschön :) Den Satz hat bestimmt schon mal jemand gesagt; aber jetzt, da du es sagst, er würde sich bestimmt auch als Graffiti oder sowas machen… Hmmm ^^

  • Ruth

    Hallo Alex, gut, dass du mich auf den Text aufmerksam hast. Sonst hätte ich ihn glatt übersehen… Ich bin etwas überrascht, da der Ton ganz anders ist als früher, definitiv wütender. Am besten gefällt mir aber daran, dass du eben nicht nur schreibst, was dir nicht gefällt, sondern auch was du dir wünschst. Das ist ja immer das Schwierigere… Mein Lieblingssatz ist deshalb: „Eure Liebe brennt nur noch für Dinge, für das Haben, nicht mehr für das Sein.“ Vielleicht magst du das in einem anderen Text noch mal vertiefen?

    Wo ich mir nicht so ganz sicher bin, ob ich das auch so sehe, ist das Ende. Da wäre ich wohl pessimistischer. Wenn man sein ganzes Leben in der Ödnis verbracht hat, weshalb sollte man denn dann im Angesicht des Todes plötzlich Einsicht haben?

    • Alex Autor des Beitrags

      Danke fürs Lesen und deine Gedanken dazu :)

      Zuerst mal möchte ich aber sagen, dass ich nicht das Lyrische Ich bin; wahrscheinlich ist dir das schon klar, es klingt nur nicht ganz so und mir ist das wichtig, das zu unterscheiden. Natürlich sind es (auch) meine Gefühle, die ich verarbeite, und natürlich ist es auch eine Gesellschaftskritik aus ihrer Mitte heraus, aber vermutlich ist das ein Grund dafür, dass du vom Ton überrascht bist, denn meine Art zu schreiben hat sich ein wenig verändert. Ich war beim Schreiben des Textes viel weniger wütend, als du vielleicht denkst. Bei den meisten Texten fällt das nicht so auf, hier ist es mir jedoch selbst auch sehr stark klar geworden.

      Was das Ende angeht: ich schätze es bedeutet: Unsere Seele/unser Bewusstsein verschwindet nicht mit dem Tod. Der Körper, das Leben ist nur eine Hülle und das Bewusstsein wird von einem fernen Ort dort hinein projiziert; das ist die Welt, in der der Text spielt und das an mehreren Stellen thematisiert. Ob das wirklich so ist oder nicht kann natürlich niemand wissen. Unter dieser Prämisse, nach dem Wegfall der „Ödnis“ des menschlichen Lebens, ist das, was danach kommt eine Erlösung. Jede Erzählung über den Tod (nur durch Nahtoderfahrungen oder psychonautische Erfahrungen untermauert, nicht jedoch bewiesen) deutet darauf hin, dass es so sein könnte. Von einer „Einsicht“ des Egos bzw. des sterbenden Menschen gegenüber eines „verkorksten“ Lebens oder sowas habe ich tatsächlich gar nicht geschrieben. Ich glaube, da hast du recht: die wird es nicht geben. Trotzdem könnte das Bewusstsein danach aber doch diese Erfahrung machen, oder? Die Welt bekommt dann davon vermutlich nichts mehr mit.

      Ich denke, dass das Lyrische Ich eigentlich gar nicht sagen will, dass man jetzt eine Art von „Einsicht“ haben könnte, auch wenn das, mit dem was du als „was du dir wünschst“ bezeichnest, anscheinend so rüberkommt, sondern dass wir einfach zu abgetrennt von unserem Göttlichen Selbst sind um unser Schicksal zu erkennen und wir dies womöglich erst im oder nach dem Tod tun werden. Also eigentlich eine tragische Situation.

  • Nismion

    Hi :) Ich bin mehr durch Zufall auf diesen Artikel aufmerksam geworden. Und ich muss sagen, er gefällt mir sehr gut. Auch das vielleicht etwas düstere Thema der vorherrschenden Ödnis, ist ein Bild, das so gemalt, wie Du es Tust, mir als Wahrheit sehr gut gefällt. Vielleicht provokant, aber ich denke, es muss auch so sein. ich werde mir jetzt mal Deinen Blog näher angucken. :)

    Grüße

    • Alex Autor des Beitrags

      Hi Nismion! Danke, das freut mich sehr, dass dir meine kleine „Geschichte“ gefällt, obwohl sie einen so schwierigen Stoff behandelt :)
      Wie findet man denn zufällig hierher? Das würde mich interessieren :)
      Ich hab auch mal auf deinen Blog geschaut – krass wie viele unterschiedliche Themen du dort zusammenpackst und wie motiviert du zu sein scheinst! ;) Ich schau mich da gern auch mal genauer um. Hast du dort irgendwo ein Stück Prosa, welches du selbst jemandem wie mir empfehlen würdest?