Auf dem Meeresgrund | Kurzgeschichte


Sie sagte, sie könne nicht ohne Luft leben, doch sie verbrachte ihr ganzes Leben unter Wasser. Sie sagte, sie könne nicht ohne Licht leben, doch sie fristete ihr Dasein in einem Kerker, tief unter der Erde. Sie sagte, sie könne nicht ohne Liebe leben, doch sie bestritt ihr ganzes Leben im Kampf mit sich selbst. Und allen, die dort in ihr wohnten und sie hassten. Sie liebte sich nicht, sie achtete sich nicht, einzig die Zerstörung und die Dunkelheit hielten sie am Leben. Die Lichtblicke in ihrer Zelle waren Illusionen, nur Visionen, nur Lichtspiegelungen auf dem Meeresgrund.

Ich hielt sie fest. Und all ihre Wut darüber, dass das Leben unter Wasser nicht dem Leben an der Oberfläche glich, hielt ich aus. Und sie übersah meine Wut. Darüber alles aufzufangen, ihre Welt zu dem zu machen, was sie in ihren Augen war: Farblos und tonlos und leer, zerfressen von einem Geschwür, unheilbar erkrankt, dem Untergang geweiht, nichts, in dem sie mich alleine zurücklassen wollte.
Sie ertrank. Sie erstickte. Qualvoll, an ihrem Hass auf und an ihrer Liebe für das Leben. Doch ich hielt sie fest und sie zog mich immer weiter hinab in die Tiefe, auf den Grund des Meeres, bis wir beide im Schlamm versanken. Ich versuchte zu atmen und ich schaffte es. Ich verstand es nicht; sollte ich nicht mit ihr vergehen? Wollte die Welt, dass ich lebe?

Ich war auf den Meeresgrund gekettet, erstarrt umklammerte ich ihren toten Leib. Bis er langsam eins wurde mit dem Wasser. Und ich wartete, tagaus, tagein, bis von ihr nicht mehr als ihr Gerippe übrig war. Ich liebte diese Knochen, ich hatte keine Angst. Weder davor zu ertrinken, noch davor nie wieder die Oberfläche zu sehen. Ich wartete. Auf den Tod. Auf das Ertrinken, doch es kam niemals. Ich war immun, ich konnte atmen. Und wenn ich hinauf blickte, dorthin wo die Welt sich zu verstecken schien, dann sah ich das Licht, die Liebe, das Teilsein, die Farben und den Ton. Sie hatte mir beigebracht, dass ich sie niemals sehen würde, denn sie würden nicht existieren. Sie hatte mir beigebracht, dass mein Schicksal das Ertrinken war. Und deswegen hielt ich sie weiter fest.

Aber ich brannte vor Wut. Vor Hass. Niemand sollte diesen Hass jemals sehen. Ich hasste sie dafür. Dass ihre knochige Hand meinen Arm umklammerte, mich gefangen hielt, mich missbrauchte mit ihr hier unten in Dunkelheit und Einsamkeit zu verrotten! Lass mich los! Lass mich schwimmen! Lass mich frei sein! Lass mich auftauchen! Lass mich atmen! Endlich Luft in meine Lungen strömen…
Aber ich blieb bei ihr, obwohl all der Hass mich nach und nach zerfraß. Immerhin… hatte sie mich geboren. Ich war es ihr schuldig. Und immerhin… war sie für mich gestorben. Ich war es ihr schuldig.

Ich blickte auf ihre Knochen, die ich fest umschlungen hielt und sah ihre toten Augenhöhlen und sah ihre Liebe. Doch sie widerten mich an und gleichzeitig konnte ich nicht loslassen. Ich redete mir ein, dass die Knochen lebten, pulsierten, liebten, nach mir riefen. Ich liebte sie und ich hasste sie. Doch den Hass konnte man in meinen Augen nicht sehen.
Er loderte. Wie die Sonne über kargem Wüstenboden. Er verbrannte alles und lies nichts zurück als Tod und Verderben, verfaultes Fleisch, trockene Knochen und leere Augenhöhlen. Kein Glitzern. Keine Liebe. Alles woraus die Welt bestand – Farbe und Ton; all das verbrannte in ihm. Nur weil sie es mich so gelehrt hatte.

Ich schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Hier auf dem Grund des Ozeans, angekettet und auf ewig verdammt, unverstanden von der Welt zurückgelassen. Doch ich konnte nicht. Zu groß war die Angst sie loszulassen, aus Versehen, und aufzutauchen und aufzuwachen im Licht.
Alles was ich wollte, war sie an mich zu drücken und mit ihr vereint zu sein, in all meinem Hass, in der Dunkelheit der Tiefe. Was war schon Ton? Und Farbe? Existierten sie überhaupt? Auf welcher Grundlage konnte ich überhaupt hassen? Kannte ich denn die Welt? Wusste ich denn, ob Luft und Licht und Ton und Farbe nicht tödlich für mich waren? Wer konnte mir schon die Fragen beantworten, die in mir brannten:
Werde ich sterben, wenn ich auftauche? Werde ich zerschmelzen, wenn das Licht mich berührt? Werde ich zerspringen, wenn ich das Schreien der Möwen höre? Werde ich ersticken… wenn ich Luft atme?
All die Schemen, die an mir vorüberzogen, all die Wesen, die ich mir in der Einsamkeit der Tiefe einbildete, all die Menschen, die ich mir in der lichten Welt in meinem Kopf erschuf – sie alle wurden immer von mir gefragt. Und keiner konnte antworten. Immer schwiegen sie. Und immer hasste ich sie. Genau wie ich sie hasste. Manche Schemen wollten mich greifen und ans Licht führen. Doch ich wehrte sie ab. Sie wollten mich töten! Mich von ihr fortreißen!

Eines Tages kam ein Schatten. Ich lächelte. Ich bildete mir ein, es wäre der erste Schatten, der mir je begegnet sei. Doch ich hatte aufgehört zu zählen, in Wahrheit. Doch immer wieder tat ich so, als sei er der erste, der wichtigste, der letzte. Dunkel. Tonlos. Farblos. Genau wie ich. Genau wie sie. Doch kein Gerippe, keine Knochen. Lebendig. Auf der Suche nach dem Licht in die Dunkelheit gestürzt, mich findend. Die Erlösung. Ich grinste und wusste: wieder konnte ich mein Spielchen spielen und bekommen, was ich wollte: neues Leben für ihre Knochen. Es war ein Zauber, ein Fluch, den ich auf die Gefallenen legte. Um den Knochen, die ich seit Jahrhunderten eng umschlungen hielt, wieder Leben einzuhauchen, lockte ich sie zu mir – die Schatten, die nach Licht suchten. Die nach Hilfe suchten. Die nach Liebe suchten.

Sie war dunkel wie ein Schatten eben dunkel war und sie suchte den Grund ab. Nach etwas, was sie verloren hatte. Ihr Seelenanteil, der ihr geraubt wurde, ihre Unschuld, die ihr entrissen wurde. Und ich packte sie. Und hielt sie fest und liebte sie, genau wie ich die Knochen liebte, die unter mir im Schlamm vergraben waren. Sie war das neue Leben der alten Gebeine und sie wiegte sich sacht in der Strömung und nahm meine Liebe an. Doch sie sehnte sich nach dem Licht, genau wie ich, sie war niemals hier hinabgestiegen um ihr Leben hier zu fristen, nur um zu suchen; nach einem Glitzern auf dem Meeresgrund. In ihren Augen sah ich die Sehnsucht nach dem Licht, nach der Liebe. Sie wollte nicht bei mir bleiben. Doch ich hielt sie und sie hielt mich. Aus Angst die Knochen zu vergessen, die unter mir verrotteten, konnte ich sie nicht loslassen. Ihr in die Augen zu sehen, war wie in die toten Augenhöhlen meiner Mutter zu sehen und ich packte noch fester zu. Den Hass verbarg ich und spielte ihr die tonlose und farblose Unterwasserwelt als Wunderwelt der Töne und Farben vor. Ich hasste sie! Dafür zu mir hinab gestiegen zu sein und mich auf ein Neues an das längst zu Staub zerfallene Gerippe zu ketten, das mich daran hinderte das Licht der Welt zu erblicken.
Hass! Wut! Feuer! Zerstörung! All das war unter Wasser ohne Bedeutung. Jede Woge wurde geglättet, nichts konnte ausbrechen, nichts konnte an der Oberfläche seine Kraft entfalten.
Ich sah sie an, den Schatten in meinen Armen, und erkannte ihre Verzweiflung. Ich wollte sie retten, davor als Knochenhaufen im Staub zu enden, doch in Wirklichkeit hielt ich sie gefangen – als Knochenhaufen im Staub. Ich hasste mich dafür.
Aber den Hass konnte man in meinen Augen nicht sehen.

Ich wusste, sie, den Schatten, freizulassen, und ihn zur Oberfläche streben zu lassen, würde ihn befreien – mich aber nicht. Ich würde auf ewig an den Meeresgrund gekettet sein. Ich würde auf ewig alleine sein.
Ich ließ sie los und damit sie nicht bei mir bleiben wollte, hasste ich sie und schrie sie an, dass sie nie mehr als ein Schatten gewesen war.

Ich war allein.
Wie ich es immer schon war, auf dem Grund des Meeres und wie ich es immer sein würde.
Auf dem Meeresgrund.

(Dark Passenger, Fragment des Ertrunkenen, Juni 2014)


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