Am Rande der Illusion | Psychonautik


2005 – 16:25:

Ich sitze auf der schmalen Holzbank hinter der Hütte und blicke ins Tal hinab. Wir befinden uns ca. auf 1200 Metern Höhe. Die perfekte Höhe, um noch Einzelheiten in dem Dorf am Fuß des Berges erkennen zu können, sich aber trotzdem nicht mehr Teil davon zu fühlen; wie ein Puppendorf sieht alles aus, Bewegungen erkennt man nur, wenn man sich dem Gesamtbild entzieht. Meistens ist es der Zug, der sofort auffällt, wie er sich durch die Landschaft schlängelt.
Talgo Ree und ich suchen hier einige Tage die Auszeit von der Stadt. Es gibt keinen Strom, fließendes Wasser zwar, aber auch sonst keinerlei Luxus.
Er kommt aus der Hütte, setzt sich neben mich und reicht mir eine Tasse Tee, während er selbst an einer anderen nippt und gedankenverloren ins Tal blickt.
„Was hast du uns denn da wieder zusammengebraut?“ frage ich ihn, während ich die Tasse nehme. Natürlich vertraue ich ihm voll und ganz. Meistens erklärt er mir jedoch in chemischem Kauderwelsch, was Sache ist.
Ich nippe an der Tasse und schmecke Pfefferminze. Mit einem Beigeschmack von erdigem, bitteren Kräutergeschmack. Und den Alkohol. Interessante Mischung. Wie Kräuter-Grog.
Talgo beginnt zu erklären:
„4,5 Gramm Samen der Ipomoea Tricolor. Gemahlen und mit Benzin als unpolares Lösungsmittel vorbehandelt, um die Toxine zu lösen. Den Samenbrei dann zum Lösen des Alkaloids Ergin – besser bekannt als Lysergsäureamid – 4 Tage in 57-prozentigem Rum als polares Lösungsmittel eingelegt. Das Filtrat befand sich in deinem Tee.“
Talgo hält mir zum Anstoßen seine Tasse hin und sagt: „Cheers.“
Ich nicke ihm ob seiner genauen Erklärung zu und innerhalb von etwa 10 Minuten schlürfen wir beide unsere Tassen leer.
Noch spüre ich nicht viel, aber auch nicht nichts. Ich habe das Gefühl, dass meine Augen träge werden, mein Körper wird wärmer und gelassener und ich spüre, wie sich viele meiner Muskeln einfach entspannen.

16:46:

Die erste Viertelstunde war irre. Wobei das eher nicht am LSA liegt… oder? Wer weiß… wenn die Welt nur eine Illusion ist, was sind dann Halluzinationen?
Um das zu erklären: Ich habe gegen eine Spinne gekämpft. Sie hing an einem langen Faden vom Dach herab. Durch den Wind wurde sie hin und her getragen, ich bekam Angst, sie kam mir immer wieder sehr nahe.
Ich machte so viele Seifenblasen wie möglich, ich bekämpfte sie gute 10 Minuten lang mit Seifenblasen, es war ein richtig erbitterter Kampf. Die Blasen sind meine Armee und ich schicke sie auf den Feind. Hin und wieder zerplatzt eine am Spinnfaden oder an der Spinne selbst. Das gefällt ihr nicht. Sie spinnt sich selbst ein um sich zu schützen.
Ich denke, ich kann sie besiegen, doch sie zwingt mich, meinen Standort zu verlassen. Ich kapituliere. Aber ich hole mein Feuerzeug aus meiner Hosentasche. Ich brenne den Faden durch, sie stürzt in die Tiefe… Ist sie tot? Kommt sie wieder?
Neben mir sitzen zwei fickende Fliegen… starr…

17:53:

Der Blick in die Berge zeigt im Ansatz atmende Effekte: Hin und wieder wölbt sich der Berg im Augenwinkel kurz. Nein, es ist eher eine Art… Kräuseln, Flimmern, Wogen… sind es meine Augen oder ist es die Realität? Sehe ich etwas, was mir sonst verborgen bleibt oder bilde ich mir etwas ein? Wo liegt der Unterschied, in einer Welt, die nicht wirklich existiert, und die ich in diesem Augenblick selbst erschaffe?
Wenn ich mich auf den Gipfel konzentriere, dann sehe ich etwas: es ist, als würde die ganze Welt versinken. Es entstehen – nein, das SIND ganz eigentümliche Berge und Täler auf der anderen Seite des Tales… Über ihnen lassen sich große flauschige Wolken erkennen… Es ist, als könnte ich sie berühren, würde ich mich nur trauen die Hand auszustrecken… Wenn ich die Gipfel betrachte, sehe ich, wie sich die riesigen Wolken verschieben; und dann fällt mir das auch auf, wenn ich sie selbst betrachte.
Der Bach rauscht, die Grillen sind unglaublich laut…
Die Bäume wiegen sich ganz sanft im Wind, ich sehe einen einzelnen Stamm schaukeln, er zieht seine Äste hinter sich her… Der Vogelbeerenbaum neben mir… flackert…
Ich höre etwas komisches. Schreie. Gekreische, als würden sich Vögel streiten, es ist so laut, sitzen sie auf dem Dach? Nein, es sind nur Raubvögel, die in der Weite ihre Runden ziehen…
Meine Füße sind eingeschlafen. Tatsächlich bin ich müde, würde ich mich hinlegen, ich würde einschlafen.
Aus dem Tal dringt der Schrei einer Dampflock, aber ich kann sie nicht erkennen.
Ich achte auf die Grillen… Sie machen Pausen, sie hören sich alle unterschiedlich an….
Ich habe das Gefühl… zu träumen… ich döse nur, dennoch kann ich klar denken und schreiben…
Es gibt Grillen, die nur ganz kurz aufzirpen… werden sie von den Dauerzirpern zurückgedrängt?
Ich schließe die Augen… der Bach hört sich immer gleich an… von oben ertönt ein Dröhnen, wahrscheinlich von einem Flugzeug…

Die Welt ist plötzlich so groß und jeder Ton hat eine Bedeutung. Mir ist klar, dass die Macht über die Welt schwerer zu erreichen sein wird, als ich es bewusst erhoffte, aber viel leichter, als ich befürchtete, und ich es tief in mir schon immer wusste. Was immer diese Macht auch sein sollte.

Ich starre auf die Bäume. Ich zweifle, ob sich wirklich der Stamm hin und her bewegt… sind es nicht nur die Äste? Nein, mir fällt auf, wie alle wanken, jeder Baum… jeder einzelne… und ich wanke mit… plötzlich sehe ich aus dem Augenwinkel nur noch wankende Bäume… überall wo ich hinsehe, sind nur noch wankende und atmende Bäume, bis mich endlich der Schlaf übermannt…

(Unus, Sommer 2005)


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