Spinne | Prosa


Spinne

Dies ist eine Araneus Diadematus. Eine gewöhnliche Gartenkreuzspinne. Sie wohnt auf meinem Balkon und spannt dort fleißig ihre Netze zwischen ein paar verkrüppelten Tomatenpflanzen, die ich zu spät an ihren Stangen angebunden habe, wodurch sie nun kreuz und quer wachsen. Manche knicken einmal komplett zum Boden zurück, um von dort wieder hochzuwachsen. Das perfekte Auf und Ab für die Spinne. Zuerst wollte ich ihr einen Namen geben. Doch ich glaube, in ihrer Welt macht man sich nicht viel aus Namen. Ich nenne sie daher einfach Spinne. Ich füttere sie mit Fruchtfliegen und zerbrochenen Träumen. Die Fruchtfliegen habe ich gerade im Überfluss, weil ich mal wieder zu faul war, den Biomüll rechtzeitig rauszubringen. Und wir wissen alle, wie das endet. Ich fange die Fliegen jetzt an mehreren Stellen in der Wohnung mit selbstgebauten Fallen, große Gläser mit selbstgebastelten Trichtern aus einem Blatt Papier als Eingang zu einem Stück Obst als Lockmittel. Ich habe festgestellt, dass Äpfel nicht so gut funktionieren wie Bananen. Die Fliegen besitzen jedenfalls nicht die kognitive Leistung den Trichter von der anderen Seite wieder zu verlassen. Irgendwie gemein. Noch gemeiner ist aber eigentlich sie an Spinne zu verfüttern. Sie können ja auch nichts dafür, dass ich so eine faule Socke bin. Kann man das noch als natürliche Nahrungskette bezeichnen? Aber was ist heutzutage schon noch natürlich. Abgesehen davon, dass wir uns ja keinem naturalistischen Fehlschluss schuldig machen wollen: Nicht alles, was natürlich ist, muss gleich gut oder richtig sein. So oder so: Ich töte die Fliegen nicht und ich serviere sie der Spinne auch nicht direkt auf dem Silbertablett; ich lasse sie einfach in der Nähe des Netzes frei und wenn sie daraufhin hineinfliegen und hängenbleiben, so rede ich mir ein, ist es gar nicht so sehr meine Schuld. Oder eben mein Verdienst.
Manchmal zerstöre ich das Netz der Spinne auch ein wenig. Nicht weil ich gemein zu ihr sein will, sondern weil ich Angst habe, dass sie, genau wie ich, zu fett und zu faul werden könnte, wenn ich sie füttere und sie dann leichte Beute für die Amseln werden könnte, die immer wieder nur einige Zentimeter entfernt vom Netz auf dem Balkongeländer sitzen. Andererseits wäre das vielleicht der passende Ausgleich für meinen Eingriff in die natürliche Ordnung. Das Netz ist jedenfalls am nächsten Tag immer wieder da. Manchmal ein wenig versetzt, doch meistens größer als vorher, als würde Spinne sich an eine mögliche erneute Zerstörung anpassen wollen.
Hin und wieder verbinde ich mich mit Spinne. Trommle mich in Gedanken in Trance, um sie in der unteren Welt zu treffen, in einem Raum, der normalerweise für Träume und Magie, die großen Wunder der Heilung vorgesehen ist, wo sich die Seelenanteile verstecken, die wir abgeben mussten, um unsere Traumata überleben zu können. Ihre langen strahlend rot-orangen Beine umfangen mich dort, zu gleichen Teilen mit der Intention mich einzuspinnen und auszusaugen als auch mit der, mich zu lieben. So oder so verbinden wir uns dadurch.
Hier kommen die zerbrochenen Träume ins Spiel. Sie labt sich an ihnen, zerrt die düstere Energie aus meiner Seele, während sie mir mit ihren langen Spinnenbeinen filigran durch die Aura webt. Es ist, als würde sie einen Stachel aus Dunkelheit aus meinem Fleisch ziehen, der dort seit Äonen schon steckt. Seit alles zersplitterte. Oder alles entstand? Ich habe es vergessen.
Den Tränen nahe wegen meines schlechten Gewissens frage ich sie, ob sie mir böse ist, dass sie ihr Netz immer wieder mal neu bauen muss, doch sie versteht die Frage nicht. Sie tut einfach, was nötig ist, was ihr Programm ihr sagt, arbeitet es ab, Zeile um Zeile, ihren Code der Existenz. Sie liebt das Leben und das Weben. Sie schimpft nicht, wenn die Zerstörung geschieht, obgleich sie schon Angst hat. Doch sie ist so im Hier und Jetzt, dass die Angst von der Freude des Lebens überlagert wird. Wir schimpfen und motzen zu viel, wird mir dabei wieder einmal bewusst, anstatt einfach zu akzeptieren und uns an jeglichen Umständen zu erfreuen, dankbar zu sein, wofür auch immer. Weil jeder Umstand eben Teil unserer göttlichen Signatur ist. Spinne versteht das.
Außerhalb meiner Reise wird mir klar, dass dies keine neue Erkenntnis ist. Dass sie profan ist. Wie fast alle großen Geheimnisse des Lebens. Dass vermutlich jeder Sprecher einer Tierdoku und jeder Life-Coach schon einmal ähnliche Weisheiten von sich gegeben hat. Den Unterschied macht aber nicht das Nachsagen und auch nicht das Verstehen. Das Erleben ist es, worum es geht.
Doch im nächsten Moment zerfließt dieses Hier-und-Jetzt-Geheimnis mit meinem Ego im Strudel der Bedeutungslosigkeit. Es sind auch nur Worte, die zeigen, wie sehr wir uns ans Leben und unsere Hüllen klammern, unser Schicksal, die Verantwortung, den Tod und die Angst wegschieben. Wenn wir nur an den Moment denken, nur an uns und den Moment, was bleibt dann eigentlich übrig? Egoismus und Hedonismus unter dem Deckmantel der Achtsamkeit. Die Apokalypse nach dem Moment, Hauptsache Spaß gehabt, mach‘s gut, mein Freund, Welt, Planet, Universum, ich bin nur hier, um mein Netz zu spinnen und zu überleben. Vielleicht ist der Sinn unserer spirituellen Entwicklung ja genau der, dass uns mehr als nur das Hier und Jetzt interessiert.
Wieder andererseits: Wenn Zeit nur eine Illusion ist, unser göttliches Selbst genau weiß, was es zu tun hat und nur unser Ego den wahnhaften Ideen von Planung, Optimierung und Heilung nacheifert, das Hier und Jetzt alles ist, was existieren kann, verschwimmt auch diese Kritik wieder in den Farben des Gemäldes, in dem ich mich gerade befinde: Ein Bild aus Schwarz und Orange, das sich unablässig um die eigene Achse dreht, so wie ich mich, in den Fängen von Spinne, im Netz, durchaus gefangen, hauptsächlich beschützt. Es gibt nichts zu verhindern. Nichts zu heilen. Nichts zu bekämpfen. Alles ist heil.
Der eigentliche Grund, warum ich von Spinne erzähle, ist allerdings ein ganz anderer: Das hölzerne Geländer des Balkons soll neu gestrichen werden. Oder lackiert, ich kenne mich da nicht so gut aus. Und dafür soll ich alles abbauen. Alle Spaliere, an denen sich eine Kiwi, Zucchinipflanzen und einige Trichterwinden hochschlängeln und die am Geländer befestigt sind. Und alle Pflanzkästen mit Wildblumen, Kapuzinerkresse, Heidelbeeren, Königskerze, Lavendel. Das Bienenhotel nicht zu vergessen, welches diesen Sommer sehr viele wunderschöne Wildbienen aufgenommen hat. Das wird ihnen nicht gefallen. Und womöglich bedeutet das, dass ich Spinne aussiedeln muss. Doch was wird dann aus ihr? Wird sie draußen in der Wildnis überhaupt noch überleben können? Ich muss gestehen, ich mache mir große Sorgen, doch in Wahrheit steckt natürlich etwas anderes dahinter. Seit längerem ist diese Verbindung mit Spinne die erste richtige spirituelle Verbindung, die ich zu einem Wesen, insbesondere einem Wildtier, aufbauen konnte. Ich hatte mich auf einen Pfad des Lichts begeben, der kein Abtauchen in die tieferen Schichten der Realität mehr verlangt hatte.
Doch ich vermisse die Verbindung, das Glitzern des Mondes in den ertrunkenen Herzen des großen Metallbaums, das Seufzen des Windes in den verbrannten Fußstapfen der wilden Krafttiere auf ihrem Weg durch das Labyrinth des dunklen Waldes, das Glühen bunter Flammen an den kichernden Oberflächen der Wellen dunkler Liebe im zersplitterten Ozean der Pilzmutter. Das Flackern der Superpositionen in den verschränkten Quanten des Aura-Vortex auf ihrer Reise zum Anbeginn der Existenz.
Spinnes Umklammerung verstärkt sich. Und ich kann plötzlich etwas sehen, was mir bisher unter all den poetischen Wunschvorstellungen verborgen geblieben war: Ich kenne sie. Sie ist Akasha, die allwissende Weltenspinne, deren Fäden alle Universen miteinander verbinden. Und ich kenne sie. Ich kenne sie doch. Ich erinnere mich nur nicht, so angestrengt ich auch überlege. Und je mehr ich mich zu erinnern versuche, desto stärker wird ihr Griff, bis er nicht mehr nur meinen Astralleib umklammert, sondern ich ihn in den längst vergangenen Leben dieser meiner Seele spüren kann. Die Eindrücke prasseln auf mich ein, Wasser dringt in meine Lunge bis ich ersticke, während ich sehe, wie riesige Feuerbälle aus dem Himmel auf die Erde niederregnen. Und ich ahne, dass ich ausgesandt wurde, nach etwas zu suchen. Nicht es zu finden, nur danach zu suchen. Wenn ich doch nur noch wüsste, was…
Ein lautes Rufen reißt mich jäh zurück in die Realität. Oder besser: Zurück in den Traum, den wir Realität nennen, die Trennung von allem. Ich sitze auf meinem Balkon und mein Blick trifft auf Spinne, die gerade ein kleines Insekt einspinnt, keine meiner Fruchtfliegen, sie kann also doch für sich selbst sorgen. Dann drehe ich den Kopf nach rechts und sehe den Handwerker auf dem Nachbarbalkon, der zu mir herüberwinkt und ruft: „Räumen Sie Ihren Balkon bitte frei, als nächstes wird der gestrichen!“.
Ich überlege, was ich tun könnte, um Spinne und unsere Verbindung zu retten. Sie hatte mir doch noch gar nicht alle Informationen gegeben. Es fehlte etwas. Vielleicht könnte ich den Handwerker bestechen? Ihn mit logischen Argumenten überzeugen? Mein Balkon hat eigentlich gar keinen Anstrich nötig, der ist noch gut. Oder ihm von Spinne erzählen und ihm weiszumachen versuchen, dass sie eine geschützte Tierart sei? Er solle sich erst mal beim Landratsamt oder wo auch immer informieren, es müsste eine aufwändige Umsiedlung in ein gleichwertiges Habitat stattfinden. Doch wo sollte das sein, nirgendwo sonst würde Spinne diese Flut an Fruchtfliegen bekommen.
Vielleicht kann ich es aber auch einfach akzeptieren und nehmen, wie es ist, so wie Spinne es mich gerade gelehrt hatte, und die Verbindung hinter den Schleier der Realität auch anderweitig wiederfinden. Meinen bequemen Kokon aus Wachzustand und Weltlichkeit wieder mehr verlassen. Herausfinden, was ich suchen sollte oder warum. Ich weiß, dass Spinne nicht die einzige Lehrmeisterin da draußen ist und Akasha tausend Gesichter hat.
Ich sehe noch einmal zu ihr und bin mir sicher, dass sie mich anlächelt. Dann räume ich die Kästen weg, wodurch ihr Netz zerstört wird und sie scheinbar panisch ans Geländer krabbelt. Wer weiß, vielleicht kommt sie ja auch wieder, nachdem alles vorbei ist. Oder nächstes Jahr. Ich warte. Mit vielen Gläsern voller frischer Fruchtfliegen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert