Der Widerstand im Herzen einer dunklen Seele, die sich nach Vergebung sehnt | Kurzgeschichte


Die Welt lag im Nebel. Wie eine Kuppel aus grau-diffusem Glas spannte er sich in alle Richtungen um sie herum auf, so dicht, dass die Sichtweite nur wenige Meter betrug.
Schon seit Minuten starrte die Kreatur schweigend und ruhig atmend auf die graue Wand, die sich mitten im Nichts aus dem tristen Feld erhob. Hin und wieder sah sie orientierungslos in die anderen Richtungen, doch überall war nur die angedeutete Weite des matschigen Feldes. Hinter dem Nebel schien es in die Unendlichkeit zu führen. Vielleicht aber auch nicht, wer wusste das schon. Doch das war unwichtig; weder die Kreatur noch die Welt selbst machten sich in diesem Moment Gedanken darum, wie weit der Nebel reichte und ob er tatsächlich die ganze Welt einhüllte.
Die Kreatur, die dort im Matsch saß und in die unbestimmbare Weite starrte, war kein Mensch. Sie war etwas entstelltes, unwirkliches, unsäglich hässliches und sie schien das selbst genau zu wissen. Denn die Traurigkeit umgab sie wie eine leuchtend schwarze Aura und in ihren großen, schwarzen Knopfaugen standen Tränen.
Die Nacht brach an und der Nebel wurde vom letzten Zwielicht scheinbar magisch erhellt. Ein eisiger Wind pfiff durch die verdorrten, wie abgenagt wirkenden Grashalme, die sich aus dem Matsch erhoben. Die Kreatur fror, obwohl sie so etwas wie ein Fell besaß. An manchen Stellen wucherte es unkontrolliert, an anderen wiederum war die Haut kahl, faltig und pockennarbig und man konnte frische Schnitte, Kratzspuren und Blutergüsse erkennen.
Das Wesen sah aus wie eine überdimensionierte Ratte. Eine spitze, teilweise behaarte Schnauze endete in einem Maul, in dem sich hässlich gelbe, große Reißzähne befanden. Eine Art Geifer tropfte aus ihm und vermischte sich mit dem Schlamm, in dem die Kreatur bis zu den behaarten Knöcheln ihrer dadurch nicht sichtbaren Pfoten steckte. Ihr Fell war teilweise mit Schlamm verdreckt, der längst eingetrocknet war.
Wie bin ich eigentlich hierhergekommen?, versuchte sie sich zu erinnern und stieß auch in ihrem Gedächtnis nur auf Nebel.
Vor ihr im Matsch glänzte eine große Pfütze, in der sich ein Licht auf der anderen Seite zu befinden schien. Denn nichts sonst hätte dieses Glänzen erklären können; die Nacht hatte sich dunkel über das kalte Feld gesenkt und alle Sterne und der Mond waren hinter dem dichten Nebel versteckt. Als wäre die Hässlichkeit der Kreatur ihres Lichtes nicht würdig.
Die Kreatur senkte den Blick endlich auf die Pfütze vor sich, nachdem sie nun mehrere Stunden in die Weite gestarrt hatte, und versuchte das Glitzern darin zu ergründen.
Ein toter Vogel war der Grund. Eine Art Lichtschein umgab ihn, diffus glimmend, mit Nuancen aus grün und Leben. Kurz sah die Kreatur die Heimat des Vogels vor ihrem geistigen Auge: Ein prachtvoller, grüner Wald, in dem er auf einem Baum saß und jeden Frühling zwitschert, als wäre es sein letzter. Als wäre es der schönste Frühling aller Zeiten. Als würde er niemals mit gebrochenem Genick in einer Pfütze im Nirgendwo liegen. Vergessen.
Die Augen des Vogels quollen aus seinem Schädel, tot und leer starrten sie ins Nichts. Sein Gefieder war verschlammt und seine kleinen Füße zeigten verkrampft in den Himmel. Sein Kopf war verdreht, als hätte ihn jemand in die Hand genommen und ihm einfach das Genick gebrochen, dem armen, unschuldigen Wesen.
Unschuldig?! knurrte die Kreatur leise in die Dunkelheit als würde sie mit jemandem reden. Wer sagt denn, dass er unschuldig war? Nur weil er süß und klein und arm hier in dieser Pfütze liegt? Ein Scharlatan war er! Eine dunkle Seele, die nichts als Grausamkeit über die Welt brachte! Er hat keine Vergebung verdient!
Im Schein des toten Vogels spiegelte sich das Gesicht der Kreatur in der Pfütze und zum ersten Mal erkannte sie sich selbst. Sie erschrak und stieß eine Art Quieken aus, schloss die von Tränen nassen Augen und schüttelte den überproportionierten Rattenkopf.
War sie wirklich so hässlich? So hässlich, dass sie selbst nicht hinsehen wollte, so hässlich, dass selbst der Tod, der neben der Spiegelung im Wasser lag, wie Erlösung wirkte.
Sie schluchzte und hasste sich dafür, dem armen kleinen Vogel mit ihrer Behauptung vielleicht Unrecht getan zu haben. Hatte sie ihn doch gesehen, wie er auf dem Baum gesessen und geträllert hatte. Der Vogel war bestimmt immer gut und rein gewesen.
Anders als die Kreatur selbst, da war sie sich sicher, auch wenn sie sich an nichts erinnern konnte.
Sie öffnete die Augen langsam wieder, erwartete eine neue Szene zu sehen, doch alles war wie zuvor: still und kalt und in grünem Schimmer lag der tote Vogel vor ihr im Wasser.
Die Kreatur näherte sich mit ihrer Schnauze dem Kadaver und schnüffelte an ihm. Ihre Barthaare, die weit in alle Richtungen abstanden, berührten das Wasser und wühlten die ruhige Oberfläche auf. Das Spiegelbild des Wesens kräuselte sich und nahm ihm so endlich etwas seiner Hässlichkeit.
Er stank nach Tod und alten, langsam verfaulenden Eingeweiden und auch der grüne Glimmer, der an das Leben im Wald erinnern wollte, konnte nun nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass der Vogel sich bereits zersetzte.
Der faulige Gestank rührte etwas in der Kreatur an und ein unbändiger Hunger überkam sie. Ohne groß darüber nachzudenken, rammte sie dem Vogel ihre langen scharfen Schneidezähne in die verdrehte Kehle. Dickflüssiges Gelee, das nach Tod, Verderben und Krankheit schmeckte, vermischte sich mit dem Speichel der Kreatur und rann gemächlich und zäh an den schmutzigen Federn herab in das Wasser.
Der Tod schmeckte so gut und als hätte die Kreatur in ihrem Leben nie etwas schmackhafteres zwischen den Zähnen gehabt, gab sie einen Laut des Vergnügens ab.
Aus dem zaghaften Biss und dem vorsichtigen Lutschen wurde ein wildes Zerfleischen und Zerteilen des Kadavers. Die Kreatur vergaß alles um sich herum, riss den Leichnam des Vogels knurrend in Stücke und labte sich an seinem fauligen Fleisch.
Das Glimmen war fort. Die geschundene Seele des Vogels hatte sich im dichten Nebel aufgelöst, war dorthin zurückgekehrt, woher auch immer sie ursprünglich gekommen war.
Die Kreatur saß noch immer im Schlamm und starrte auf die nun dunkle Pfütze, die sich nicht mehr vom Rest des Bodens abhob, nicht mehr erkennbar war und nur erahnen ließ, dass sie nun mit Federn und Gedärmen gefüllt war.
Alles wurde dunkel.
Wieder weinte die Kreatur, vergessen war der Hunger, vergessen war das Fressen des Kadavers. Sie vermisste das Licht in der Pfütze, sie vermisste den kleinen toten Vogel, sie vermisste die Erinnerungsfragmente des lebendigen Waldes, die nun wie weggewischt schienen, sie vermisste sogar ihr eigenes Spiegelbild, das sie jetzt nicht mehr sehen konnte.
Alles war dunkel. Endlich. Zu lange hatte der Nebel das Licht der Dämmerung gespeichert gehabt. Endlich war die Kreatur dort, wo sie hingehörte: in die absolute Finsternis.
Weinend und schluchzend erinnerte sie sich, woher sie gekommen war, bruchstückhaft und in schemenhaften Bildern. Um sie herum war alles grün und voller Leben, Vögel zwitscherten und Insekten surrten durch die duftende Luft. Sie blickte an sich herab und sah die wundervollsten Farben auf ihrem Körper schimmern, die im Licht der Sonne strahlten. Sie sah sich um und erkannte den Wald.
Es ist so wunderschön hier und ich bin wunderschön, murmelte sie sich selbst zu, vielleicht um ihrem in der Dunkelheit verzweifelnden Ich Hoffnung zu geben.
Sie saß auf einem Ast und sang, als wäre es der schönste Frühling aller Zeiten. Denn sie wusste: es würde ihr letzter Frühling sein.


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