Identität 2


Vor einigen Tagen war ich mit einem alten Freund Kaffee trinken und er begann mit einem Thema, das mich sowieso gerade sehr beschäftigt, was mich – ganz morphotechnisch betrachtet – darin bestärkt, das zu vertiefen und damit zu arbeiten.
Er erzählte mir, dass er momentan Stiller von Max Frisch lese und sich sehr ertappt fühle, da bei ihm – vor allem beruflich, wie es wahrscheinlich sehr vielen Leuten geht – alles nicht so läuft, dass es ihn glücklich machen würde. Er zitierte:

„Heute wieder sehr klar: das Versagen in unserem Leben läßt sich nicht begraben und solange ich’s versuche, komme ich aus dem Versagen nicht heraus, es gibt keine Flucht. Aber das Verwirrende: die andern halten es für selbstverständlich, daß ich ein anderes Leben nicht vorzuweisen habe, und also halten sie, was ich auf mich nehme, für mein Leben. Es ist aber nie mein Leben gewesen! Nur insofern ich weiß, daß es nie mein Leben gewesen ist, kann ich es annehmen: als mein Versagen.“

Wir diskutierten darüber, was es eigentlich bedeutet zu sein, wie man sein möchte, und ob es immer ein Kampf gegen einen selbst sein muss, glücklich und zufrieden mit einem selbst werden zu können – wir aber trotz alledem ständig scheitern und versagen.

Können wir nicht sein wer oder was wir wollen? Wo liegen die Grenzen?

Ich wäre gern wie Paris Hilton.

Hätte ich persönlich eine Chance dazu das umzusetzen? Ich müsste mein Leben schon sehr ändern und in Bereiche eingreifen, die mit unseren – menschlichen – Möglichkeiten sehr schwierig sind, aber wo fängt die Veränderung an? Ich müsste eine Gechlechtsumwandlung machen, ich müsste Milliardärs-Erbin werden, ich müsste zum IT-Girl werden und in diesem Fall würde ich vermutlich… scheitern.

Ich wäre gern Astronaut und würde gern auf andere Planeten fliegen.

Scheitern vorprogrammiert, so werde ich nicht glücklich….

Also welche Möglichkeiten hat man? Die Menschen sagen immer – z.B. die tollen Kandidaten der verschiedensten Castingshows -:

Du kannst schaffen was du willst, wenn du nur an dich glaubst.

Ist das tatsächlich so? Oder sollte man eher aufgeben können? Den Kampf beenden, ohne das Gefühl zu haben, versagt zu haben. Aber woher kommt überhaupt das Gefühl, etwas unerreichbares zu wollen?

Als ich dann nach Hause kam von dem Treffen, spielte ich eine Runde Might & Magic: Heroes VI und wie es die Synchronizität so wollte, ging es in der Kampagne, die ich neu anfing um eben dieses Thema:

Kiril, der Sohn eines Fürsten – der des Greifenimperiums, welches in dem Spiel die rechtschaffenen, ritterlichen Menschen darstellt -, wird von einem Engel in die Dämonenwelt entführt und als Teil eines Rituals wird ihm eine mächtige Dämonenseele eingepflanzt. Er wacht dort auf und fühlt sich zerrissen, tritt in Dialog mit dem Dämonenherrscher, der in ihm wohnt und darum bettelt die Kontrolle übernehmen zu dürfen.

Das ist kein seltener Plot, doch wie mit dem Zwiespalt des Protagonisten umgegangen wird, ist hier durchaus gut umgesetzt.

Im Schamanismus gehen wir bei Heilungen ja von einem gleichartigen Phänomen aus: Schwere Energie, die unser Energiefeld besetzt und uns unglücklich macht, so dass wir uns zerrissen fühlen, muss nicht immer aus uns selbst kommen: Andere Wesenheiten, Ahnen, alte Muster der Eltern oder Großeltern, Traumata, die Teile unserer Seele zum Schutz vor sich selbst in das all-verbundene Energiegefüge eingelagert haben – all das kann Grund für Fremdenergie in unserem Energiefeld sein. Ich wäre nicht der erste Anhänger des Schamanismus, der selbst miterlebt hat, wie Besetzungen und fremde Energie gelöst werden, der miterlebt hätte, was für Lasten und Fremdbestimmungen bei einer Extraktion oder Seelenrückholung vom ‚Besessenen‘ fallen – und, nein, das ist kein Placebo-Effekt.

Aber es ist nicht immer so einfach, denn wie immer im Schamanismus, wie immer BEI ALLEM auf der Welt, geht es in erster Linie um Bewusstwerdung: Ich muss genau wissen, wer oder was ich sein möchte – eigentlich – und was es ist, was mich so zerreißt. Mit WISSEN meine ich nicht VERSTEHEN, sondern SICH BEWUSST SEIN.

Kiril reist durch die Länder seines Imperiums, in seinen Adern pocht die Kraft des Dämons und jede Nacht plagen ihn Alpträume, doch sie kommen nicht von dem Dämon selbst. Dieser geht ganz unsubtil vor und schreit Kiril an, bei vollem Bewusstsein, dass er ihn aufzehren wird, wenn er ihn nicht befreit.
Die Alpträume werden ihm von einem Schamanen gesandt, einem Traumwandler, den er eines Tages auf einer Lichtung trifft und der ihm erklärt, dass der Traum der Kanal zur Bewusstwerdung ist, dass der Alptraum gut ist und er erkennen muss, wer er wirklich ist, um den Dämon besiegen zu können.

Wow, ich war fasziniert davon, wie ein simples Fantasy-Strategiespiel solch weisen Grundzüge der schamanischen Heilung rezitieren kann… und wie wenige Spieler vermutlich trotzdem darüber nachdenken werden.

Als Schamane, der um Hilfe gebeten wird von jemandem, der sich zerrissen fühlt, würde ich auch sagen: schau dir deine Träume an, reise, such dir einen Stein (oder einen Nagel, wenn das besser in dein Leben passt ;), lass die Natur zu dir sprechen, nimm die Zeichen um dich herum auf, öffne die „Augen“… öffne dein Herz.

Und am Ende? Was bleibt am Ende? Wenn man sich zerreißt, kämpft, sich nicht vollständig fühlt, immer versagt, immer scheitert, kämpft und kämpft – gegen sich selbst?

Die Entscheidung.

„Wann wird dieser Kampf gegen mich selbst jemals aufhören?“, fragt Kiril seine Mutter, die er auf seinen Reisen trifft, von der jedermann glaubte, sie sei tot.
„Niemals, solange du kämpfst und dich nicht entscheiden kannst.“
„Und wie schafft man das und woher weiß man was die richtige Entscheidung ist?“
„Man folgt seinem Herzen.“

Kitschig? Trivial? Aber am Ende das Richtige… und sobald man das begreift, ist auch der Kitsch verschwunden.

Schon ein paar Tage, bevor ich mich mit meinem Freund traf, gab es zwei Elemente – ein Video und ein Musikstück – welche ich mir immer wieder ansah und darüber sinnierte, weil ich spürte, dass mein Herz dazu „ja“ sagt, mich jedoch etwas zurückhält das wirklich zu begreifen. Was einen zurückhält ist der Dämon, der Tyrann, die dunkle Seite des Drachens, die in jedem von uns lebt – und die wir auch brauchen, die aber nicht die Oberhand behalten muss.

Das eine ist ein Video, das Teil einer Werbekampagne ist; das bedeutet allerdings ja zum Glück nicht automatisch, dass die dort getroffenen Aussagen falsch sein müssen:

Das Ende der Geschichte: Kiril bekommt keine Unterwelts-Extraktion von dem Schamanen oder einem Greifenreich-Heiler; er findet sich damit ab, eine dunkle, infernalische Seite zu haben, denn er findet raus: Der Dämon ist schon irgendwo ein Teil von ihm und das war er vermutlich immer schon. Alles was es zu tun gilt ist: den Kampf aufgeben, glücklich sein und das Leben leben. Die Geschichte endet mit einem Scherz, der jedoch ziemlich gut zeigt, worauf es ankommt: Kiril meint, das halbe Jahr würde er in der Oberwelt bei den Engeln bleiben und dort glücklich sein. Und im Winter – wenn es sowieso zu kalt ist, um jagen zu gehen usw. – geht er in die Unterwelt; dort ist es zumindest schön warm und die Sukkubi haben ja auch ihren Reiz ;)

Das zweite wichtige Element ist ein Track aus dem neuen Album von Diary of Dreams, einer meiner Lieblingsbands, düster, melancholich, fatalistisch… Das Stück ist auch zumindest eines davon: fatalistisch, aber ansonsten sehr optimistisch und lebensbejahend, ohne fröhlich-kitschig zu sein, und ich denke, WIRKLICH an dem Punkt zu stehen, den der Protagonist beschreibt, ist wahrhaft wertvoll:

http://www.youtube.com/watch?v=bWqamTvyVpY

Das Szenario fragt: kann ich mein Leben ändern und leben wie ich will, wenn ich praktisch wie neugeboren wiederauferstehe? Wenn ich nicht einmal meinen Namen kenne? Wer bin ich dann? Der, der ich war, oder der, der ich sein will?

Träumt!
Lebt!
Spürt das Leben und geht jedes Wagnis ein, um euch noch lebendiger zu fühlen!
Atmet, und fühlt diese Kraft in euren Adern pulsieren!

Nur dann werdet ihr eines Tages herausfinden, wer ihr wirklich seid…


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2 Gedanken zu “Identität

  • Rasmess

    Ahhh Stiller ist definitiv eine Empfehlung wert, wenn man sich mit der eigenen Identität auseinandersetzen möchte, und vor allem auch dass Forderungen und Wünsche an den Beziehungspartner „tödliche“ Auswirkungen haben können. Also am Besten lebt, träumt, spürt und atmet, stellt soviele Forderungen an Euch selbst wie ihr wollt, aber Forderungen an andere sollte man sich abgewöhnen.

  • Alex

    Ich finde eigentlich, dass man durchaus Forderungen an die Menschen um sich herum stellen kann, solange man diese Menschen (so wie alles andere um einen herum) als Resonanz auf die eigene Energie begreift. Insofern wären diese Forderungen aber ja doch wieder Foerderungen an sich selbst und damit – meiner Meinung nach – vollkommen legitim und auch normal. Oder willst du, dass wir gesenkten Hauptes durchs Leben gehen und zu jedem, der uns begegnet ‚ja und amen‘ sagen ohne selbst Interaktions-Entscheidungen treffen zu dürfen?