Langsam lasse ich noch einmal in meiner Vorstellung die Geschehnisse ablaufen, die mich dorthin geführt haben, wo ich nun stehe. Oder besser: gehe; unter dunklen Wolken und einem Regen, der nun schon seit Stunden andauert, spaziere ich den Kiesweg entlang. Es geht ein wenig bergauf und es strengt mich langsam schon an.
Rechts neben dem Weg ist ein kleiner vollkommen durchwucherter Graben, der früher anscheinend mal ein Bach war, dahinter stehen Bäume und Sträucher und dahinter läuft – genau wie auch auf der linken Seite des Weges – ein Stacheldrahtzaun entlang, hinter dem sich Wiesen erstrecken; rechts einen Hügel hinauf und links nach unten Richtung Straße.
Hin und wieder komme ich an offenen Stellen im Zaun vorbei, woraus ich schließe, dass die Wiesen momentan keinen Kühen zum Grasen dienen.
Ich sehe zum Himmel und versuche die Sonne auszumachen, aber es ist einfach zu bedeckt dafür. Alles ist still, bis auf das Prasseln des Regens; ich habe weder eine Jacke an noch einen Regenschirm dabei, aber es stört mich nicht, im Gegenteil: ich freue mich, denn das Wetter ist perfekt für unser Vorhaben.
Dabei denke ich an die anderen Teilnehmer – streng genommen: meine Klassenkameraden – und frage mich, wieso ich hier so alleine bin; der Weg ist so wunderschön, voller schöner Steine, die Bäume neben mir wiegen sich im Wind und ich verstehe nicht, wohin alle anderen gegangen sind. Es ist, als wäre ich als einziger auf der Suche nach einem schönen Platz für mein Sandpainting.
Aber ich zweifle; ich werde langsamer und sehe mich um. So schön dieser Weg auch ist, wo finde ich den Platz, den ich suche? Wo finde ich einen schönen Baum, der nicht am Wegesrand steht? Ich weiß nicht was ich suche, aber ich gehe weiter. Doch ich rechne schon mit einer Enttäuschung: doch zurückgehen zu müssen, einfach umzudrehen und einen schönen Platz unten am See zu finden.
Da taucht vor mir eine Baumgruppe auf und ich schöpfe Hoffnung, dass mich dieser Weg doch noch zum Ziel führt. Je weiter ich gehe, desto deutlicher sehe ich was ich gesucht hatte: ein Baum, der rechts von mir hinter dem Hügel auftaucht, sticht aus der gesamten Gruppe von Bäumen heraus. Hinter ihm stehen dunkle Wolken am Himmel, er selbst ist nur noch ein Gerippe, während die Bäume um ihn herum alle noch belaubt sind. Er ist tot. Oder krank. Aber wunderschön. Ich weiß in diesem Moment, dass er mich ruft, höre das Raunen seiner morschen Äste, das Flattern des Mooses an seinem Stamm und fühle mich wahrhaftig angezogen.
Ich warte auf den nächsten Durchgang im Zaun und schere in die Wiese aus. Das Gras ist knöchelhoch und regendurchtränkt, ich wate praktisch durch die Wiese. Immer weiter in Richtung des Baumes und während ich nur schleppend vorankomme, prasselt der Regen weiter auf mich herab und ich merke, wie weit der Baum in Wirklichkeit entfernt ist.
Doch irgendwann habe ich ihn erreicht; sein Stamm ist umschlossen von einem großen Hagebuttenstrauch und hier, an diesem Baum, ist man vollkommen unsichtbar, vom Weg nicht zu sehen. Der perfekte Platz für meine Steine, die ich erst auf dem Weg hierher gesammelt habe.
Der Regen prallt an den Ästen meines Baumes ab und ich höre in ihm nur die Bestätigung: hier bin ich richtig.
Ich pflücke einige Hagebutten und suche mir am Fuß meines Baumes einen Platz im hohen Gras, den ich ein wenig plattdrücke, um dort mein Gemälde herzustellen.
Eine Zeitlang sitze ich nur da, im Regen, und denke darüber nach was ich will, was meine Themen eigentlich sind und wie ich sie anordnen soll.
Mit den Hagebutten ziehe ich einen kleinen Kreis, der mein Sandpainting eingrenzen soll. Desweiteren habe ich auf dem Weg hierher einige schöne Blätter, die drei Steine und eine Pusteblume mitgenommen, die mich auf der Wiese angelacht hat, als einzige weit und breit.
Das erste Thema meines Abbildes soll der Diabetes sein und ich nehme dafür den kleinen grünen Stein und stecke ihn in die Erde. Ich bitte die Mutter ihm die Kraft zu geben mit ihm daran arbeiten zu können und mache das gleiche bei den anderen beiden Steinen auch. Ich ordne sie in einem Dreieck an, wobei ich Stein eins und zwei näher zusammenlege; für das zweite Thema dachte ich an Problem, dessen Ursprung ich in derselben Thematik wie den Diabetes sehe.
Der dritte Stein ist ein großer kantiger und nicht sonderlich hübscher Stein; und genau deswegen habe ich ihn aufgehoben – er soll mich darstellen und meine Sicht auf mich, mein fehlendes Bewusstsein, meine vermeintliche Schuld und meine Unzulänglichkeiten.
Ich ordne ihn so an, wie ich denke, dass das Bild einen Sinn macht: Stein eins und Stein zwei werden über die gleiche Wurzel gespeist, also umschließe ich sie mit Wurzeln des hohen Grases und stelle eine Verbindung zwischen ihnen her. Die Pusteblume führt vom Diabetes über Stein zwei zu meinem Selbstwertgefühl und blüht dort auf. Ich denke also: finde ich diese Wurzel, zerstöre sie und ihre Auswüchse, dann geht es mir auch besser und ich kann endlich an mich selbst glauben…
Ich bin zufrieden, setze mich neben mein fertiges Bild, schließe die Augen und lausche dem Wind und dem Regen. Mir wird langsam ein wenig kalt und ich bin ziemlich durchnässt, aber ich fühle mich gut. Als stünde ich vor einer Heilung. Ich danke der Mutter dafür, mir diesen Platz gezeigt zu haben und bitte sie um Hilfe.
Dann stehe ich auf und stapfe durch das nasse Gras – immer noch bei Regen – den ganzen Weg wieder zurück, lächle dabei und frage mich, was nun passieren wird.
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Hoi!
Danke für die schöne Schilderung und fürs Teilhaben Lassen. Das war sehr schön und man konnte das Flattern des Mooses richtig mithören.
*smile*
Wanderer
Ah, da hast du mich ja auf einen sehr schönen Tippfehler aufmerksam gemacht, peinlich, peinlich :-D
auch von mir ein danke für diesen wundervollen einblick. deine visualisierende art zu schreiben ist unglaublich und ich freue mich schon auf die fortsetzung.
Hey Smiley, schön dass dir die Geschichte bisher gefällt; die Fortsetzung ist leider noch nicht geschrieben, aber bei der Resonanz versuch ich mich natürlich zu beeilen ,)