Die Reise in die Wüste – Teil 1 5


Reise in die Wüste 01

Die Prämisse

Lange habe ich die Skizzen für diesen „Reisebericht“ sondiert, das ein oder andere Mal einfach losgeschrieben und vieles wieder über den Haufen geworfen. Ein Grund dafür war immer, dass es für mich zwar eine große Reise war, für jeden „Normalreisenden“ aber sicherlich irgendwie merkwürdig anmutet, wie viele Worte man über eine Radreise im eigenen Land verlieren kann.
Ich möchte diesen Bericht deswegen mit einer Erklärung darüber beginnen, was für mich Reisen eigentlich bedeutet und inwieweit es sich damit vermutlich von den landläufigen Perspektive abhebt. Aber auch eine Warnung möchte ich vorausschicken: der Bericht wird nicht kurz sein, da ich versuchen werde, alte Erkenntnisse und Themen zu rekonstruieren (dem ausführlichen Tagebuchschreiben sei dank) und er aus diesem Grund auch auf zwei Beiträge aufgeteilt wird.

Reisen ist für mich zielunabhängig. Nicht unabhängig in dem Sinne, dass es egal wäre, aber unabhängig im Sinne einer Wertung. Jeder kennt den ach so philosophischen Aphorismus:

Der Weg ist das Ziel

Das trifft es teilweise, doch lassen wir hier gerne den Kontext außer acht, während wir verträumt zu diesem Spruch nicken.

Eine Reise ist für mich kein 12-Stunden-Flug an einen Touristenstrand mit Unterkunft in einem 5-Sterne-Allinclusive-Hotel, Gruppenführungen im Gänsemarsch über ausgetretene Trampelpfade, Restaurant-Empfehlungen und wichtige Sehenswürdigkeiten, die in einem Touristenführer stehen, dem x-ten Sonnenuntergang über einer Strandpromenade, der exakt so aussieht, wie auf der Postkarte, die man 20 Meter weiter erwerben und mit einem Text zwischen den Zeilen, der in etwa „Schau, wo ich war, hier musst du UNBEDINGT mal hin! Sei neidisch!“ lautet, an die Daheimgebliebenen verschicken kann. Das ist Urlaub, eine Erfahrung, Befriedigung von Fernweh vielleicht, ja, doch insgesamt mehr Schein als Sein, und nicht das, was ich unter einer Reise verstehe. Nicht ihre Seele.

Für mich ist das Reisen an einen anderen Ort immer auch eine Reise zu uns selbst. Nur weil wir den Weg und auch das Ziel unserer Reise nicht als ein Spiegelbild unseres Herzens zu verstehen vermögen, denken wir oft, es ginge um soviel mehr oder zumindest etwas vollkommen anderes, als um die Gebirge und Ozeane, Wüsten und Flüsse, Wälder und Seen unserer inneren Welten, die sich im Außen widerspiegeln.
Eine Reise ist nicht nur der Weg. Sie ist nicht nur das Ziel. Sie ist nicht nur das Innen und nicht nur das Außen. Für mich ist eine Reise vor allem Freiheit, Möglichkeit, offen zu sein für die Führung der Welt, Abenteuer, Entdeckung. Etwas zu suchen, was ich vielleicht gar nicht verloren hatte und etwas zu finden, was mich gerufen hat. Und warum sollte mich nur die letzte Insel am anderen Ende der Welt rufen dürfen? Warum kann mich nur die Sahara rufen, wenn es eine Wüste sein sollte, die dafür bestimmt wäre einen Teil meiner Selbstzerstörungsenergie in sich aufzunehmen und zu transformieren und mir einen lang verschütt gegangenen Seelenanteil zurückzugeben.

2012 auf einer schamanischen Reise an der Isar erreichte mich dieser Ruf.

Das ist der Stein der Statue, der auf einer goldenen, verdorrten Wiese unter einer roten Sonne in staubigem Sandboden vergraben werden soll.

Dass es sich hierbei um eine Wüste handelte, war mir nicht sofort bewusst. Es fühlte sich in dem Moment der Vision zwar eher wie eine Steppe an, aber in diesem Jahr verdichteten sich die Hinweise für mich darauf, dass der Stein in den Sand wollte. Es war ein Ruf der brennenden Sonne und aus irgendeinem Grund auch des Lebens und der Heilung, welche ich bisher immer nur im Wasser gesehen hatte.
Und ich dachte mir: Ja schade, es wird also noch ein wenig dauern, bis ich zur Wüste komme. Vermutlich war irgendeine Begegnung mit dem peruanischen Hochland geplant. Ich versuchte diese Rufe zwar zu genießen, aber es war immer ein wenig Wehmut dabei. Warum ich nicht einfach in den nächsten Flieger gestiegen bin, um dem Ruf nach Peru zu folgen? Oder in die Sahara? Oder zu sonst einem Ort, den man von Bildern kennt? Die Antwort ist einfach: weil dieser Ruf eben nicht von dort kam. Es ist nur das erste, woran man denkt, wenn man ein Bild einer Steppe oder einer Wüste vor Augen hat. Ich spürte, dass die Zeit für eine konkretere Führung noch nicht gekommen war.

Nur ein paar Tage nachdem ich diese Information das letzte Mal bekommen hatte, offenbarte sich mir mein Ziel: Ich saß im Büro meiner damaligen Arbeit als Werkstudent. Neben mir ein Kollege, mit dem mich das Interesse an Lost Places verband und er sagte unvermittelt zu mir, dass er gerade herausgefunden hatte, dass es bei Wikipedia die Funktion Zufälliger Artikel gäbe, er sie gar nicht kannte,  und total cool fände. Ich sah zu ihm rüber, auf seinen Bildschirm, und er klickte auf Zufälliger Artikel. Die Seite für Lieberoser Wüste erschien, mein Kollege sah mich an und sagte: „Wusstest du, dass wir in Deutschland eine Wüste haben?“.
Das war der Moment, auf den irgendetwas gewartet hatte. Ich wusste es in dieser Sekunde: dort musste ich hin. Ich studierte die Wikipediaseite und mit jedem gelesenen Satz wurde es deutlicher. Hier war die Statue aus meiner Vision, hier wollte der Stein hin, den ich aus dem Wasser bekommen hatte. Genau dort hin. Ich hatte noch keine Ahnung, dass diese Wüste so viele passende Besonderheiten aufwies, die mir eine weit entfernte Prärie oder eine Sandwüste wie die Sahara niemals hätten geben können.

Im Laufe der Zeit wurde mir immer klarer, dass die Reise dorthin eine Visionssuche werden sollte, nur ich und mein Rad, von München bis knapp nach Berlin, mit nur dem einen einzigen Ziel: dem Sand diesen Stein zurückzubringen und dort etwas geschenkt zu bekommen, was für mich bestimmt war und dort auf mich wartete. Es aber dennoch nicht auf dieses Ziel zu reduzieren, einfach mit dem Zug hinzufahren, den Stein zu vergraben und wieder abzuhauen.

Zwei Jahre später, im August 2014, war es soweit. Ich packte meinen Rucksack, mit Zelt und Hängematte, hatte eine grobe Route, aber keinen Plan. Ich wusste nicht wo ich wann sein würde. Ich wollte einfach losfahren und schauen was passiert. Ich hatte keine Ahnung davon, wann ich ankommen und was ich auf dem Weg dorthin entdecken würde, wo ich schlafen würde und ich wollte mir auch die Zeit nehmen jedem Impuls nachzugehen. Keine Sehenswürdigkeiten auf der ToDo-Liste, kein Zeitplan, nur Eckdaten: heute hier, irgendwann dort, egal ob in 10 Tagen oder in 3 Wochen.
Es war auch ein Experiment für mich, wie gut das tatsächlich funktioniert, wie sehr man tatsächlich an Plänen hängt und wie verloren man sich fühlt, wenn man bei Sonnenuntergang auf einem Feld steht und noch nicht weiß, wo man schlafen wird. Wo die Grenze verläuft, zwischen der Freiheit und dem Sich-verloren-fühlen.

Kurz vor Start der Reise hatte ich noch einen Traum, den ich dann prosaisch verarbeitete und hier als Der Ruf der Wüste veröffentlichte. Es war alles, was ich an Planung für die Reise benötigte.

01 Reisestart

Damit man sich die im nachfolgenden Text angeführten Stationen und Entfernungen besser vorstellen kann, gibt es hier noch eine kleine Routenübersicht über die Reise.
Teil 1 beschreibt folgende Strecke:

Station 1: Schwandorf

Das erste Stück aus München heraus fuhr ich tatsächlich mit dem Zug. Ich kann nicht genau erklären warum. Ich begann mit dem Rad also erst in Regensburg und ich entschloss mich erst einmal die Regen entlang zu fahren, um irgendwann auf die Naab umzuschwenken. An beiden Flüssen hatte ich sehr schöne Momente, und es ist mir unmöglich hier adäquat in Worte zu fassen, was ich alleine an diesem Tag alles erlebte: ich verlor meine Kopfhörer irgendwo am Fluss und musste mehrere Kilometer zurückfahren und sie an mehreren Stellen suchen, um sie schließlich wiederzufinden, ich sah Reiher in Massen auf den Feldern, die mich zu begleiten schienen, ich erlebte allein an diesem Tag zwei heftige Wolkenbrüche im Wechsel mit strahlendem Sonnenschein inklusive der schönsten Regenbögen, die sich daraufhin vor mir aufbauten, da ich ja Richtung Norden unterwegs war. In Ponholz entdeckte ich einen der schönsten Lost Places, die ich bisher gesehen hatte: Eine alte Fabrik, mit so vielen begehbaren Räumen und interessanten Entdeckungen, dass ich dort erstmal ein bis zwei Stunden zubrachte. Aber der Höhepunkt war der Ort, der mich für meine erste Nacht rief:
Mitten auf dem Land in der Nähe von Schwandorf ging langsam die Sonne unter und es galt einen Platz für mein Zelt zu finden. Von früheren Zelt-Aktionen wusste ich, dass das nicht ganz so einfach war, einen guten Platz zu finden, wie man das sich gerne vorstellt. Wildzelten ist immer noch verboten und auch wenn es natürlich niemanden wirklich stört, möchte man ja nicht zu sehr auffallen.
Der Platz, den ich schließlich fand, war der ‚Tripelpunkt‘ einer Wiese, eines Kleefeldes und eines Maisfeldes und er war perfekt. Mehr noch: ich erkannte in ihm das Kleefeld aus meinem Traum und wusste damit, dass ich wirklich auf dem richtigen Weg war.

02 Zeltplatz

Ich lasse den Tag ausklingen, indem ich barfuß in das Kleefeld laufe, mich hineinsetze, pfeife, und dem Rascheln des Windes im Maisfeld lausche. Die Schwalben flitzen über das Feld, nur Meter von mir entfernt. Wenn es jemals einen Moment in meinem Leben gab, dem ich bescheinigen würde, glücklich gewesen zu sein, dann steht dieser hoch im Kurs, auch wenn irgendetwas zu fehlen schien.

03 Kleefeld

Mit Maus-Rascheln neben mir aus dem Maisfeld in den Ohren und trotz allem Schönen mit einem mulmigen Gefühl, schlafe ich ein und wache bald schon auf, weil es stark zu regnen begonnen hat. Letztlich zu viel für mein Zelt und dementsprechend geschlaucht war ich am nächsten Tag auch, der sehr trist begann. Trotzdem war es ein tolles Gefühl, im Morgennebel am Rande des Feldes zu sitzen und zu meditieren und mir war klar, dass diese Nacht genau das bestätigte, was ich mir selbst beweisen wollte: man braucht keinen Plan. Man kann immer und überall Rast finden. Man muss keine Angst haben, meistens ist das Rascheln doch nur eine Maus im Maisfeld. Man kann Vertrauen haben, geführt zu werden, von der Welt behütet zu werden.

Station 2: Weiden

Der nächste Tag war nass und kalt, es regnete den ganzen Tag, die Sonne blieb fern, und ich hatte die Möglichkeit mal meine Regenausrüstung zu testen. Letztlich blieb ich zwar trocken, doch mein Handy, welches ich zur Navigation benutzte, zickte rum und so erfuhr ich, wie aufgeschmissen man ohne Plan und ohne Navigation doch sein kann. Ich hatte zwar auch Karten dabei, doch blöderweise verlor ich diese irgendwo. Der Tag schien nicht unter einem guten Stern zu stehen und als ich irgendwann mitten im Wald auf einem dünnen, rutschigen Wandersteg stand und mein Rad immer weiter den Berg hochhievte, während es ohne Unterlass regnete, verzweifelte ich kurz. Ich setzte mich mitten auf den Waldboden und suchte die Ruhe und Führung der Welt in mir. Dann fiel mir auf, dass ich inmitten von riesigen Brombeersträuchern saß. Ich pflückte also eine halbe Stunde lang Beeren. Vielleicht war das eine Art von Übersprungshandlung, vielleicht war es aber auch genau die Art von Kraft-tanken, die ich brauchte. Vertrauen zu haben bedeutet nicht, dass immer alles problemlos läuft. Dass man keine Hindernisse zu überwinden hätte, dass man sich einfach zurücklehnen und faulenzen könnte. Aber dass trotzdem alles gut werden konnte.

05 Brombeeren

Ich entschied mich, den Berg nicht weiter hochzuklettern, schlug mich querfeldein durch den Wald und kam irgendwann bei einem Fluss raus. Ich verfuhr mich noch ein paar Mal, doch langsam kam die Sonne raus und plötzlich funktionierte mein Handy wieder.

Ich steuerte die nächste Stadt an, Weiden, und zog dort in eine Pension ein. Nach der anstrengenden Nacht im Zelt und dem anstrengenden Tag im Regen brauchte ich ein Bett. Kurz war ich von mir selbst enttäuscht, denn ich hatte nicht geplant jemals nicht in Zelt oder Hängematte zu schlafen, doch die Reise entwickelte sich eben doch anders, als ich dachte. War es wirklich eine Visionssuche, auf der ich ganz für mich allein sein sollte?, fragte ich mich an diesem Abend, als ich im Bett lag, oder sollte es doch um etwas anderes gehen?

Station 3: Tirschenreuther Sumpfgebiet

Der nächste Tag startete sonnig und ich steuerte zuerst den Ort Windischeschenbach an – nur wegen des abgefahrenen Namens. Unter einem riesigen Baum auf einer großen Wiese in der Nähe suchte ich Schutz vor dem ersten von insgesamt drei Wolkenbrüchen. Während ich da unter dem Baum saß und um mich herum die Welt, die eben noch den strahlenden Sonnenschein genossen hatte, im Wasser versank, musste ich an eine Freundin denken. Eine komplizierte Freundschaft, die aufgebaut war auf Tränen und einer alten Verbindung, die wir beide niemals richtig verstehen konnten, die in meinem Leben die Rolle einer Figur aus einem Vorleben einnahm, die trotz aller Verbindung durch Wasser, mit dem Feuer verknüpft war. Ich nenne sie Die Verbrannte und sie war diejenige, die damals das Schicksal Des Ertrunkenen besiegelte. Sie ist die Statue aus meiner Vision an der Isar, die mir den Stein schenkte und sie ist die Statue aus meinem Traum kurz vor der Reise, die den Stein in der Wüste in Empfang nehmen würde. Ich hatte einen Stein von dieser Freundin, für sie, auf der Reise dabei, der ebenfalls in den Sand der Wüste wollte, dunkle Materie aus ihrem Herzen, das sich nach Ruhe und Erleichterung sehnte. Auch wenn unser Verhältnis zu diesem Zeitpunkt schwierig war, so wollte ich immer noch alles tun, was in meiner Macht stand, um ihr bei der Transformation zu helfen, denn ihre Transformation war auch die Transformation ihrer Rolle in mir.
Ich schrieb darüber kurz darauf in mein Tagebuch:

Da musste ich an A. denken. An Tränen. Dass ich soviel um sie geweint habe und so oft. Und dann weinte ich, weil ich das Gefühl hatte, dass das eben zu uns gehört. Verbunden durch Wasser, verbunden durch Tränen.

Ich schreibe das nicht, weil es traurig klingen soll – sondern im Gegenteil, weil es für mich unheimlich gut demonstriert, wie die Welt Geschenke verteilt, Transformationen möglich macht. Dieser Moment war für uns beide wichtig. Um in der Lage zu sein, ihre dunkle Materie der Statue der Verbrannten im Feuer einer brennenden Sonne zu überantworten, musste ich mich noch einmal durch Tränen und Wasser mit ihr verbinden.

Wolkenbrüche sind irgendwann übrigens wirklich halb so schlimm. Es gibt immer und überall eine Möglichkeit sich unterzustellen. Wir sollten also eigentlich an Sommertagen für unsere Ausflugsplanungen den Wetterbericht vermutlich einfach viel öfter ignorieren.

Nach Windischeschenbach ging es dann runter ins Waldnaabtal, ein wirklich schönes Waldgebiet, idyllisch und mit Steigungen, die mir, mit Rucksack bepackt, fast ein wenig zu viel waren und ich quälte mich letztlich ziemlich durch. Überhaupt merkte ich an diesem Tag, dass ich mir mit der Entscheidung mein ganzes Gepäck (Isomatte, Luftmatratze, Hängematte, Zelt, Kleidung) im Rucksack zu transportieren, keinen Gefallen getan hatte. Dem Muskelkater an Rücken, Schultern, Armen und Oberschenkeln schloss sich ein sehr schmerzender Hintern an. Das nächste Mal auf jeden Fall Satteltaschen! Anfängerfehler.

Dann kam ich an ein wunderschönes Sonnenblumenfeld in einem Tal zwischen zwei Waldstücken. Gegenüber davon graste eine große Schafherde. Ich freute mich sehr, war es doch die logische nächste Station, den Traum betrachtend, der meine Reise im Vorfeld skizzierte. Doch es war zu früh, ich hatte bestimmt noch 400 Kilometer vor mir, ich wusste also, das ‚richtige‘ Sonnenblumenfeld, kurz vor der Wüste, würde erst noch kommen.

06 Sonnenblumenfeld

07 Schafe

Am Nachmittag erreichte ich einen See, den Mühlnickelweiher, und ich ließ mich dort nieder um meinen Wasservorrat aufzufüllen. Ich hatte meinen Wasserfilter zum ersten Mal im ernsthaften Einsatz und füllte meine Flaschen mit frischem, gefilterten Seewasser auf. Einen Filter statt gekauftes Wasser dabeizuhaben erschien mir immer schon als eine intelligente Lösung, es stellte sich allerdings zeitweise auch als sehr zeitraubend heraus.
Ich war der einzige am gesamten See und hin und wieder sprangen große Fische aus ihm heraus und schnappten nach den tieffliegenden Insekten. Mein Blick verlor sich in der spiegelnden Wasseroberfläche und ich erinnerte mich an einen Traum, den ich (wahrscheinlich die Nacht zuvor) gehabt hatte:

Der See, an dessen Ufer ich im Traum stand, war voller Schlangen. Sein Grund, den man durch das klare, leicht grünliche Wasser gut erkennen konnte, war eine einzige sich windende Masse aus wuselnden Tieren. Doch es war nicht bedrohlich. Sie waren schön, mächtig, heilsam. In den Wäldern um den Schlangensee herum lebte ein alter Mann, ein Schamane, den aufzusuchen mein Grund war hierhergekommen zu sein. Doch nun hielten mich der See und die Schlangen in ihrem Bann, für immer, so fühlte es sich an.

08 Mühlnickelweiher

Als ich das Waldnaabtal verließ, traf ich ein junges Pärchen, das dort zum Wandern unterwegs war. Dass wir ins Gespräch kamen, deutete das erste Mal richtig für mich an, dass die Botschaft dieser Reise vielleicht nicht das Auf-sich-allein-gestelltsein war, das ich mir in irgendeiner Art und Weise immer wieder für mein Leben wünschte. Ich bin normal nicht der Typ dafür, in freier Wildbahn Kontakte zu knüpfen, doch hier fühlte es sich anders an. Ich begleitete die beiden ein Stück auf ihrer Wanderung und wir sprachen über Reisen und Diesundjenes. Als ich ihnen erzählte, wie meine weitere Route aussehen sollte, empfahlen Sie mir einen Umweg zu fahren und an anderer Stelle durch die Tschechei zu fahren, weil ich mir unbedingt die Klosterstadt Waldsassen ansehen sollte. Wie oben schon erwähnt: ich gebe eigentlich nichts auf Empfehlungen und Sehenswürdigkeiten. Doch in einer konkreten Situation könnte so etwas Teil der Führung der Welt sein, also entschied ich mich dafür es so zu machen. Die eigentlich Route war ja auch kein wirklicher Plan gewesen.

Von der Fahrt durchs Waldnaabtal sehr geschlaucht machte ich mich Richtung Waldsassen auf, da es jedoch schon relativ spät war, ging ich nicht davon aus, dort noch vor Anbruch der Nacht anzukommen. Auf dem Weg kam ich durch das Tirschenreuther Sumpfgebiet, das wirklich unheimlich schön war und ein wenig ‚endzeitig‘ anmutete; weite Flächen mit unzähligen Seen und einer merkwürdigen ‚Sehenswürdigkeit‘ inmitten dieses Gebiets: der sogenannten Himmelsleiter, die man auf dem folgenden Foto auch links in Hintergrund sehen kann.

09 Sumpfgebiet

Im Wald um das Sumpfgebiet zog dann plötzlich ein Gewitter auf. Ich merkte, dass es sich nicht um einen kurzen Wolkenbruch handeln würde. Der Himmel wurde schwarz und das Donnergrollen kam immer näher. Ich muss gestehen, in dem Moment hatte ich ein wenig Panik: es war bereits nach 21:00 und ich war mitten im Wald. Der Weg, auf dem ich war, war halb zugewuchert und angesichts des drohenden Gewitters schlug ich mich in das Unterholz, um irgendwo für meine Hängematte passende Bäume zu finden. Jetzt kommt der Teil, der beinahe ein wenig peinlich ist: Ich hatte die Hängematte noch nie zuvor benutzt – es war eine Matte mit integriertem Moskitonetz und einem Tarp gegen den Regen. Über mir grollte der Donner und ich verzweifelte beim Zusammenbauen beinahe, bekam es einfach nicht hin, in der Aufregung, mit all den Seilen, Hängematte, Netz, Tarp, die richtige Stelle zwischen den verfügbaren Bäumen zu finden, wo sollte das Tarp im Boden verankert werden, wieso ist das Ding viereckig, wie decke ich damit die Hängematte komplett ab? Ich bin mir sicher, ich hab mich dämlich angestellt und es bestimmt auch nicht perfekt gemacht. Aber ich muss auch sagen: so einen Nervenkitzel hatte ich seit Langem nicht mehr erlebt. Jeden Moment konnte der Starkregen kommen und ich bekam diesen einen verfluchten letzten Knoten nicht auf!

10 Hängematte

Letztlich habe ich es natürlich geschafft und das Tarp war auch sehr viel wasserdichter, als mein Zelt, doch die Nacht war schrecklich. Schlafen in einer Hängematte ist sowieso schon eine spezielle Sache, dazu kam aber, dass ich den Standort total unterschätzt hatte: ich war immer noch in einem Sumpfgebiet und anscheinend auch noch in ein Tal geraten, als ich tiefer in den Wald gegangen war. es war also ziemlich kalt, trotz mehrerer Kleidungsschichten, Isomatte in der Hängematte und Schlafsack. Außerdem regnete es durch. Ich fror die ganze Nacht, tat kaum ein Auge zu, und wenn, dann träumte ich wild.

Station 4: Waldsassen

Als es langsam hell wurde und ich mich entschloss so schnell wie möglich zusammenzupacken, hatte ich Halsschmerzen und glühte. Sumpffieber, wie ich meine, was sonst?

Ich beschloss Waldsassen anzusteuern, was zum Glück nur noch etwa 20 Kilometer waren, und mich dort für den Rest des Tages auszuruhen. Dort angekommen fühlte ich mich wirklich krank. Die Stadt war komplett leer und ich hatte das Gefühl der einzige Besucher zu sein. Ich suchte mir sofort ein Zimmer und ging dann nochmal raus, um irgendwo etwas zu essen und setzte mich an einen Tisch vor der erstbesten Pizzeria.
Was dann passierte, war für mich, nach der Begegnung mit dem Wanderpärchen am Tag zuvor, der Beweis dafür, dass es hier gegenteilig meines ersten Impulses, wenn ich mit der Welt interagiere, um Kommunikation ging. An den Nachbartisch setzte sich ein Mädchen. Sie sah irgendwie verloren aus. Und ich rief einfach zu ihr rüber. Irgendwas von wegen, hier sei ja gar nix los, ein, zwei Floskeln tauschten wir aus, und ich fragte sie, ob sie sich nicht zu mir setzen wolle. Wenn ich das jetzt so schreibe und an eine große, volle Stadt wie München, vor allem aber an meine doch eher zurückhaltende Art denke, erscheint es mir unmöglich, dass ich so etwas jemals wirklich gemacht habe.
Wir redeten darüber, warum wir hier waren (sie war zum ersten Mal hier, kam aus Selb, und wollte eigentlich eine Wohnung besichtigen), über Reisen und schließlich über Gott und die Welt, bis das Gespräch sehr persönlich wurde. Als sie mir da gegenüber saß und von ihrer Vergangenheit erzählte, hielt sie irgendwann inne und sagte, dass sie das noch kaum jemandem so erzählt hätte. Da musste ich schmunzeln, drückte sich doch hier gerade eine Art Talent aus, das ich selbst kaum verstand, aber natürlich kannte: Einem völlig unbekannten Menschen, bei einer ersten Begegnung in irgendeiner Art und Weise das Gefühl geben zu können, verstanden zu werden. Aber ich saß da nur und war mit meinen Kräften am Ende, ich tat nichts, hatte keinen Plan. Es war einfach nur eine schicksalhafte Begegnung.
Die Botschaft war für mich, dass Begegnungen auf Reisen, so wie ich sie oben definiert habe, womöglich eine andere Qualität haben, als im Alltag. Ich verhielt mich ganz anders, ging mehr auf die Leute zu, die ich traf, fragte öfter mal nach dem Weg und war einfach präsenter, als ich selbst von mir gewöhnt war.

Bald darauf legte ich mich schon hin. Ich glühte und fühlte mich auf dem Höhepunkt eines Infekts. Ich schlief bald ein und hatte eine der erholsamsten und gleichzeitig anstrengendsten Nächte meines Lebens, von Fieberträumen geprägt, aber mit einem ungemein tiefen Schlaf. Bereits am nächsten Tag ging es mir schon sehr viel besser. Ich beschloss aber den Tag hier zu verbringen, mir das Kloster und die Umgebung anzusehen, zu Fuß, und damit meinem Hintern eine Pause zu gönnen.
Tatsächlich interessierte mich das Kloster selbst doch weniger, als ich dort war. Zu viel Touri-Getue. Stattdessen erkundete ich die alten Klosterhöfe und fand tolle Lost Places, alte Mauern und eine stillgelegte Bahnbrücke, auf die ich kletterte. Es war sehr windig an dem Tag und ich gab mir ganz viel Ruhe, indem ich teilweise eine Stunde lang nur irgendwo am Feldrand saß und dem Wind lauschte.
Wieder ging ich früh schlafen und wieder schlief ich sehr gut.

Station 5: Bad Brambach

Am nächsten Tag war ich vollkommen wiederhergestellt. Ich war sehr überrascht, denn normalerweise darbt mein Körper aufgrund meiner gesundheitlichen Situation an jedem Infekt längere Zeit und zickt gern auch mal zusätzlich rum. Aber etwas war anders. Es fühlte sich an, als wäre irgendetwas erfolgreich rausgebrannt worden, was normalerweise immer unter der Oberfläche schwelte. Der Sumpf hatte mir in der Verkleidung der Krankheit Heilung geschenkt.
Seit diesem Tag ging es mir körperlich immer besser. Viele meiner chronischer Symptome, allen voran die oft so bleierne Müdigkeit, verschwanden und ich bekam einen Energieschub.
Vielleicht kam dieser aber auch von dem Zoigl, das ich mittags noch trinken musste, weil es mir sowohl von dem Wanderpärchen als auch von dem Mädchen aus der Pizzeria ans Herz gelegt wurde.

Danach machte ich mich auf zur tschechischen Grenze. Die Fahrt nach und durch Cheb war ziemlich hektisch, denn es gab über lange Strecken keine Radwege und ich musste auf der Landstraße fahren. Ich versuche so etwas eigentlich grundsätzlich so weit wie möglich zu vermeiden. Allgemein war die Fahrt durch die Tschechei eher anstrengend, da die Ausschilderung eine Katastrophe war.
Ich kam in Franzensbad vorbei und machte einen kleinen Umweg durch den Stadtteil, in dem ich 2012 meine erste Fastenerfahrung gemacht hatte.

Irgendwo in Tschechien, kurz vor der Grenze zurück nach Deutschland, zog mich ein weites Feld an und ich setzte mich dort eine halbe Stunde auf die Wiese. Hier verstand ich den Sinn der Reise, warum ich in Kontakt treten wollte, warum sich der Kontakt zu Menschen gerade hier, auf einer Reise, die ich als Visionssuche angetreten hatte, so anders darstellte. Ich schrieb dort in mein Tagebuch:

Dieses ganze alleine rumreisen, das Zelt aufschlagen, die Dinge entdecken – das ist zwar schön – und inspirierend und ich liebe es. Doch ich entwickle mich in eine andere Richtung – ich will Teil der Welt um mich herum sein, Teil der Menschen. All das mit jemandem zusammen erleben. Das Abenteuer mit jemandem teilen. Und dazu gehört auch Kontakt aufnehmen. In Pensionen gehen, Menschen treffen, auf dem Weg, nicht nur schöne Orte… Nicht nur Natur… Nicht nur Abenteuer für mich allein.

Jetzt, zwei Jahre später, wenn ich das schreibe, weiß ich, dass ich mich wieder davon wegentwickelt hatte, leider. Weil ich aber weiß, dass persönliche Entwicklung und auch Entwicklung im allgemeinen spiralförmig passiert (es lebe die Wirbelphysik ;), verzweifle ich daran nicht. Es gab immer einen Grund dafür, dass ich das Einzelgänger-Sein eingeschlagen habe, dass ich in der Welt und auf Reisen das Gefühl suchte, all das mit niemandem teilen zu können. Aber dort auf dieser Reise war es, als würde ich eine neue Ebene in der Spirale erreichen. Dieser Moment, dort, auf dem tschechischen Feld, war eine große Erkenntnis für mich, eine, die ich so noch nie formuliert hatte.

Ich bekam dort außerdem eine Bussardfeder geschenkt, die ich mir an mein Rad montierte, um schneller fahren zu können. Bussardfeder-Buff: Plus zwei Geschwindigkeit. Die Feder behielt ich dort bis ich die Wüste schließlich erreichte.

11 Bussardbuff

Zurück in Deutschland begann die Route erst mal mit der bisher größten Steigung nach Schönberg und einer wundervollen Abfahrt nach Bad Brambach, welches wie verlassen, geradezu wie eine Lost City wirkte. Die Pensionen, die ich anfuhr, waren tatsächlich Lost Places oder einfach saisonbedingt geschlossen.

12 Bad Brambach

Und auch hierbei lernte ich etwas, was mir davor sehr schwer gefallen war, und es auch im Alltag immer noch tut: einfach irgendwo vor der Tür einer Pension zu stehen, in der Dämmerung, mit Sack und Pack, und um ein Zimmer zu bitten. Hallo, hier bin ich. Unter kam ich in Bad Brambach so in einem großen Eiscafe, welches zusätzlich noch ein paar Zimmer vermietete.
Ich quatschte noch ein wenig mit der Besitzerin und war überrascht davon, wie viel Freude mir der Kontakt bereitete. Sollte ich jetzt nicht in einem Zelt liegen, alleine? Eine spirituelle Erfahrung mit der Natur haben? In dem Moment war mir klar, dass ich die restlichen Nächte das Zelt und die Hängematte vermutlich nicht mehr verwenden würde.
Die Hälfte der Strecke hatte ich hinter mir und ich konnte es kaum erwarten zu erfahren, welche Begegnungen mir diese Reise noch bescheren sollte, eine Spannung, die auf einen Aspekt gerichtet war, den ich bisher nicht kannte.

~ Fortsetzung folgt ~


Erde zu Erde
Der Ruf der Wüste
Die Reise in die Wüste – Teil 1
Die Reise in die Wüste – Teil 2 (In Arbeit)
Im Zentrum der Wüste (In Arbeit)
Endzeitimpressionen – Fotogalerie



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5 Gedanken zu “Die Reise in die Wüste – Teil 1

  • Max

    Schön geschrieben. Ich fand gerade das Ende am besten, wo du ein paar Witze machst. Bei der Wirbelphysik hab ich sogar laut gelacht :D

    • Alex Autor des Beitrags

      Dankeschön! Da bin ich zum Ende hin wohl in eine etwas flapsige Stimmung gekommen; der Geschwindigkeitsbuff ist mir fast ein bissl peinlich :D Aber ich hoffe, die Geschichte ist auch ohne Scherze einigermaßen lesbar…

  • Ani

    Und gleich ist wieder das Gefühl von damals da, das Mitfiebern und das Staunen über all die Erlebnisse :) und trotzdem soviel neues, ganz andere Aspekte und Anekdoten…schönster Text ever…Mit Bussardbuff :D
    Ganz zu schweigen von den Fotos <3
    Ich hoff, der nächste Teil kommt baaaaald.

    • Alex Autor des Beitrags

      ‚Schönster Text ever‘? Uiuiui. Bestimmt übertrieben, aber danke :)
      Da ich so unglaublich gut darin Fortsetzungen fertigzubekommen, hoffe ich auch, dass der nächste Teil bald kommt ^^