Der Ruf der Wüste | Kurzgeschichte 4


Das Surren der Insekten erfüllte die Luft und ich glaubte niemals wieder etwas anderes zu hören. Hören zu können. Hören zu müssen. Das Zirpen der Grillen verschmolz mit dem Flügelschlag der Bienen und dem Brummen der Hummeln und mit den dumpfen, beinahe stummen Paarungsrufen der Käfer zu einem einzigen Ton, der nur die eine, letzte Geschichte erzählen wollte: wir sind alle eins.

Ich hatte meine Augen längst schon geschlossen und mich dem Gefühl voll und ganz hingegeben. Ich musste nicht sehen, was um mich herum passierte, ich wollte es nur hören… und fühlen. Aber trotzdem wissen. Wissen, dass ich auf einer Wiese im Sonnenlicht saß. Im hohen Gras, im blühenden Klee, weit weg von der Zivilisation.

Kleewiese

Wissen, dass ich in ihren Armen lag und beschützt wurde. Wovor – das wusste ich gar nicht genau. Vielleicht davor, dass sich dunkle Gewitterwolken vor die Sonne schieben könnten. Oder davor, dass die Wölfe aus dem nahen Wald gerannt kamen, um mich zu zerfleischen, mit einem einzigen tödlichen Biss eine klaffende Wunde in meinen Hals reißen könnten.
Kurz blitze es in meinen Gedanken auf, rot, wie das Spritzen von Blut und ich kniff die Augen fest zusammen. Kurz verteilten sich die Töne der Insekten, der ganzen Welt, wieder in ihre Einzelteile. Nicht mehr eins, getrennt, stoben sie in die unterschiedlichsten Richtungen davon. Aus Angst, vor Wut, sterbend.

Ich hörte sie husten und öffnete die Augen.
Alles war hell, keine Wolke war am Himmel zu sehen, die Grashalme zwischen den Kleeblüten wiegten sich sacht im lauen Wind, die Sonne strahlte, aber brannte nicht.
Sie hielt mich in ihren Armen und strich mir über die Haare und dabei flüsterte sie:
„Mein kleines Mädchen, hab keine Angst, ich beschütze dich.“
Ich drehte meinen Kopf nach hinten und lächelte sie an. Kurz hatte ich vergessen wo ich war, wer ich war und wer sie war.
Meine Mutter und ich, ihr kleines Mädchen, saßen auf einer weiten Kleewiese, im Tal vielleicht ein See, neben uns wahrscheinlich der Waldrand, hinter uns – es war mir egal. Ich fühlte mich so geborgen, so warm und so sicher, niemals wollte ich aufstehen, niemals wieder mich im Surren der Welt verlieren. Es machte mich verletzbar, es bedrohte mich, es wollte uns trennen – indem es uns mit allem vereinte.

Wieder hörte ich sie husten und besorgt warf ich ihr einen Blick über meine Schulter zu.
Ihre grünen Augen waren trüb, milchig und traurig blickten sie mich an, während ihre Hand über mein langes blondes Haar strich und damit begann Haarsträhnen zu trennen.
„Soll ich dir einen Zopf flechten?“, fragte sie und versuchte zu lächeln.
Es blieb ein Versuch, denn ich sah den Schmerz in ihren Augen. Etwas Dunkles breitete sich in ihnen aus, schwarze Fangarme zogen sich als kaum sichtbare Fäden aus ihren kleinen Pupillen in das trotz allem noch so wunderschöne Grün um sie herum, infizierten es, töteten es…
Ich nickte, denn ich liebte ihre braunen Zöpfe, die sie immerzu trug und immer wenn es ging ließ ich mir die gleichen von ihr flechten. Und dann, sobald sie nicht mehr hinsah, machte ich sie wieder auf und kicherte, nur um sie wieder geflochten zu bekommen. Niemals war sie deswegen böse auf mich. Wir liebten es beide, dieses Spiel.
Doch heute war etwas anders als sonst. Heute zirpten die Grillen unruhiger. Heute strahlte die Sonne kälter und dunkler und der Klee war farbloser als sonst. Auch ohne Schatten und ohne Wolken überschattete uns etwas und wir wussten beide, dass es etwas Tödliches war.

Kleefeld_Invertiert

Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne, damit sie mir den Zopf besser flechten konnte und schloss wieder die Augen.
Ich genoss ihre Berührungen und seufzte ob des drohenden Unheils und wieder sah ich das Blut und ich erschauderte. Wie sollte ich jemals hier alleine auf dieser Wiese sitzen und mir Zöpfe flechten können? Warum dachte ich überhaupt daran es alleine tun zu müssen? Ich war doch nicht allein, sie war doch hier… und sie beschützte mich…
„Mama?“, fragte ich und sie hielt kurz in ihrer Bewegung inne und etwas in mir schrie Hör nicht auf, berühre mich, beschütze mich, halte mich aber sprach es nicht aus. Denn da war noch etwas anderes. Die Dunkelheit, die ich in ihren Augen gesehen hatte, sprach zu mir und plötzlich hörte ich das Muster im Surren der Insekten. Das Muster, das ganz anders war als sonst, jenseits von Gut und Böse, von Licht und Dunkel, und es raunte: Steh auf! Lauf! Renn!
Ich wusste, was es mir sagen wollte; ich liebte es hier zu sitzen, beschützt zu werden, mich geborgen zu fühlen, das einzig Wichtige zu sein. Doch etwas fehlte. Ich wollte die Insekten nicht nur hören, ich wollte sie jagen! Sie fangen und in Gläser stecken, sie studieren und mit ihnen reden, mich mit ihnen anfreunden und mit ihnen zusammen in den Wald gehen. Die Wölfe treffen. Auch mit ihnen reden und mit ihnen zusammen den Mond anheulen und Hasen jagen. Ihnen von Angesicht zu Angesicht im Mondschein gegenüber sitzen und sie ihre scharfen Zähne fletschen sehen, sie knurren hören, doch niemals in Gefahr schweben. Und ich wollte andere Kinder treffen und mit ihnen durch den Wald und über die Wiesen toben. Mit ihnen durch die Maisfelder laufen und mich in Erdlöchern verschanzen. Sie überraschen und mit ihnen rangeln, mich dabei dreckig machen, bis zur Unkenntlichkeit mit Matsch bedeckt werden, um unseren Eltern dadurch Tag für Tag neue graue Haare wachsen zu lassen, während wir kichernd auf den Heuboden flohen. Mit ihnen durch den See schwimmen und auf der Insel in der Mitte des Sees stranden. Uns wie Schiffbrüchige fühlen. Piraten sein, Ritter sein, Inselläufer sein. Und Prinzessin sein. Und Seeräuberbraut. Monster erschlagen und Prinzen heiraten. Kind sein.

„Ja, mein Schatz?“, erwiderte sie und fuhr mit dem Flechten fort.
„Darf ich in den Wald?“
Wieder hielt sie kurz inne.
„Nein, mein Kind. Es ist gefährlich dort. Ich kann dich dort nicht beschützen.“
„Aber ich bin schon groß. Ich kann auf mich aufpassen.“
Meine Mutter schüttelte den Kopf und begann damit, mir Kleeblüten ins Haar zu flechten.
„Nein, du bist zu klein für den Wald. Die Wölfe würden dich zerfleischen. Die Bäume würden dich erschlagen. Die Hasen würden dir mit ihren kleinen, scharfen Krallen die Augen auskratzen! Du musst hier bleiben… Im Licht, bei mir, damit ich auf dich aufpassen kann.“
Ich seufzte. Vielleicht hatte sie Recht.
Ich öffnete die Augen und starrte einen Maikäfer an, der vor mir auf einem Kleeblatt saß. Er war so friedlich und seine Fühler bewegten sich wie in Zeitlupe. Dann blinzelte er mir plötzlich zu und schrie stumm: Renn!

Ich sprang auf. Der Käfer hatte mir einen Impuls gegeben, den ich bisher noch nicht kannte. Ich wollte rennen, endlich rennen!
Doch sie ergriff meinen Arm und zog mich zu sich herab, wieder, und sagte nur leise:
„Ich lasse dich nicht gehen!“ Es klang dunkel, bitter, einsam, traurig…
Ich schloss die Augen und ich sah den Maikäfer fliegen. Über Wiesen und Steppen, bis er schließlich in Sandboden landete. Ein Strand? Nirgendwo war Wasser und die Sonne brannte vom Himmel, heißer, als ich es jemals erlebt hatte. Der Käfer vertrocknete, starb vor meinen Augen und endete als schwarzer Krümel auf dem Wüstenboden. Die Wüste war früher einmal eine weite Wiese gewesen. Der Käfer hatte sich hierher verirrt, seiner Erinnerung folgend, den Erzählungen seiner Vorfahren folgend, ein Kleeblatt suchend. Das Licht ergriff ihn und erlöste ihn.
Ich wollte sie sehen, die Wüste, ich wollte sie fühlen, die alles niederbrennende Sonne.

Käfer

Also sprang ich wieder auf.
Ich hatte keine Ahnung, was passiert war, doch heute war alles anders. Ich wollte nicht mehr hier sitzen, ich wollte nicht mehr behütet werden, ich spürte ganz deutlich: sie beschützte mich nicht vor der Dunkelheit, sondern nur vor dem Leben, vor der Sonne.
Ich drehte mich zu ihr und sah in ihr Gesicht. Ich stand und sie kauerte auf der Wiese und jetzt sah ich ganz deutlich, was in ihren Augen war: etwas, was sich ausbreiten wollte, was auch mich haben wollte. Die schwarzen Tentakel stoben aus ihren Augen und griffen nach mir. Niemals würde sie mich gehenlassen können.
Ich riss mich los. Schwer atmete ich aus… und ein… und aus… Ich war doch nur ein kleines Mädchen, was tat ich hier?
„Mama…?“
Traurig sah sie mich an und blickte dann enttäuscht zu Boden.
„Mein Kind… immer nur wollte ich dich beschützen. Bleib bei mir und wir gehen gemeinsam. Du wirst nie wieder leiden.“
Überfordert sank ich auf die Knie und ließ ihre Arme mich umschließen und begann zu husten. Wir würden ersticken, ertrinken, beide, gemeinsam. Und die Sonne wurde immer dunkler und kälter. Langsam wurde die Wiese feucht und zu einem Sumpf, angefüllt mit schwarzem, klebrigem Wasser, das uns ertränken wollte, sich uns einverleiben wollte.
Und wieder sah ich das Spritzen von Blut, Blut, das mir von ihr erzählte, von ihrer Sehnsucht und ihrem Schmerz, von ihrer Angst. Mich allein zu lassen. Allein zu sein.

Noch einmal versuchte ich mich loszureißen, mit meiner letzten Kraft, der Kraft, die eine aufblitzende Sonne und ein staubiger Windhauch mir gaben.

Und ich rannte. Endlich. Nach all den Jahren, ohne noch einmal darüber nachzudenken, einzig mit dem Wunsch nicht ertrinken zu wollen, nicht wieder, nicht schon wieder.
Ich blickte nicht zurück. Sie würde sterben, dort, auf der ehemaligen Kleewiese, dort im Sumpf. Erst würde sie husten, dann würde sie bluten, dann würden die dunklen Tentakel sie umschließen und zerquetschen, ihre Knochen brechen und ihre Haut zerfetzen. Sie würde schreien und die Dunkelheit würde ihre Seele mit sich tragen, in eine Welt, in der sie auf ewig leiden würde. Aber ich war frei, endlich. Und dem Tode geweiht, so ohne Schutz?

Und ich rannte. Und tauchte ein in den Wald, in seine Dunkelheit und seinen Schutz. Ich sprang über Wurzeln und Äste und Schlammpfützen und hin und wieder sah ich Tierkadaver, wie sie stinkend verfaulten und Scharen von Fliegen um sie kreisten, doch ich wandte meinen Blick ab, ich war nur ein kleines Mädchen und ich wollte rennen, aber den Tod nicht sehen. Er verfolgte mich, doch er bekam mich nicht. Hinter mir gefror die Welt. Die Dunkelheit, die mit ihrem Tod freigelassen wurde, überrollte nun auch die Bäume des Waldes und als sie in die Finsternis eintauchten, da erschienen an ihnen riesige Fratzen mit scharfen Zähnen und blutenden Augen. Mit ihren Ästen schlugen sie wild um sich und versuchten meinen Lauf zu beenden. Doch ich sprang, sah sie nur aus den Augenwinkeln und immer wenn die Dunkelheit wie eine Peitsche auf mich zukam, schrie ich auf und schlug einen Haken.
Immer schneller lief ich und ich schnaufte und keuchte. Noch nie in meinem Leben hatte mich irgendetwas so sehr angestrengt. Und als ich beiläufig an mir herabsah, da erkannte ich, dass ich gewachsen war. War ich noch das kleine Mädchen, das in den Wald gerannt war? Wie lange war es her? Ich versuchte mich zu erinnern, was vor dem Wald gewesen war, doch alles war dunkel, war ertrunken im Sumpf des Vergessens.

Und dann sah ich den Waldrand und das Licht und als ich ihn durchbrach, wie eine Barriere, da fiel alles von mir ab. Plötzlich rannte ich im Licht, hinter mir der Waldrand und vor mir – Sonnenblumen. Ein Meer an Sonnenblumen. Ich lachte, so sehr sich meine Muskeln auch langsam verkrampften ob der Anstrengung, ich lachte.

Sonnenblumen2
Über mir strahlte sie Sonne und neben mir strahlten sie Sonnen und ich rannte durch das Sonnenblumenfeld. Alles um mich herum verschwamm, alles war schwarz und gelb, alles war hell, alles war gut, und nur noch mein Atemrhythmus zählte, nur noch die Schrittfolge war wichtig, nur noch das Gefühl zu verschmelzen mit der Welt um mich herum. Zu laufen. Zu rennen. Über Furchen auf dem Boden zu springen. Zu laufen. Zu rennen. Ich weiß nicht mehr wie lange eigentlich und plötzlich war da nur noch Hitze und Leere und Weite.

Nach dem Sonnenblumenfeld kam die Wüste, die mich von Anfang an gerufen hatte, und ich hielt an. Ich stützte meine Arme auf die Knie und atmete schwer. Ich hatte das Gefühl jahrelang gelaufen zu sein. Über mir brannte eine große, rote Sonne, heiß und innig versuchte sie alles zu verbrennen, was ihr nicht genügend Respekt zollte und unter mir schien sich der Wüstensand stetig zu bewegen, zu schaukeln, wie auf einem Schiff.

Und ich erinnerte mich an sie und dass ich einst ihr kleines Mädchen war. Das kleine Mädchen, das sie in mir gesehen hatte.
Ich sah an mir hinab und erkannte, dass wirklich Jahre vergangen waren. Ich war erwachsen. Und ich grinste, bitter, denn immer hatte ich mich danach gesehnt, immer hatte ich diesen Ruf im Surren der Insekten gehört. Doch jahrelang ignoriert und mir Zöpfe flechten lassen.
Ihren Ruf. Den Ruf der Wüste. Den Ruf der Sonne.

Wüste

Als meine Gedanken es aussprachen, bebte die Erde und ich musste mich anstrengen nicht zu stürzen. Vor mir brach die Erde auseinander und der Sand rann die tiefen Spalten im Boden hinunter. Aus der Spalte erstand etwas und ich sank auf die Knie und schloss die Augen, denn es blendete mich, es blendete die ganze Welt. Selbst die Sonne setzte kurz ihr Scheinen aus, so hell war das Flackern des Feuers, das aus der Erdspalte kam.

Als ich meine Augen wieder öffnete, ragte vor mir eine riesige Statue aus dem Boden. Sie stellte eine Frau dar, die in Flammen stand, gefesselt, die Arme ausgestreckt, mit der offenen Handfläche nach oben, traurig, sterbend, verdammt. Und ich weinte. Denn was ich sah, das öffnete das Tor zur Erinnerung an die Kleewiese und meine Mutter und ich sah sie vor mir. Sie war ertrunken auf der Wiese und wiederauferstanden als große Statue aus rotem Gestein inmitten einer Sandwüste.
Mich auch hier wieder in die Rolle drängend, der ich rennend und laufen und schnaufend entkommen war. Aber ich wusste: hier sollte ich sein und hier sollte ich ihr etwas geben, was ihre offenen Handflächen erwarteten. Was sie sich in die Erde zurückziehen lassen würde und die Stille wieder herstellen würde.

Also tat ich es und legte all meine Liebe und mein Sein in ihre Hände. Den Frieden, den ich um mich herum in den Sonnenblumen und im Wald aufgenommen und transportiert hatte. Hierher, nur aus diesem einen Grund: ihn ihr zu schenken.

Wieder bebte die Erde und die Statue verschwand in der Erde. Frieden. Überall. Ich lachte. Und sank auf meine Knie. Und weinte. Und atmete.
Und ein weiteres Mal sah an mir hinab. Ich war längst kein kleines Mädchen mehr.

Und doch war es noch nicht vorbei. Ich sah in die Weite, sah das Flirren der Hitze über dem roten Wüstensand, sah das Blitzen des Staubes, der von den Sternen zu kommen schien, hörte das Raunen der Weite und wusste, dass sie, die Verbrannte und ewig in den Flammen leidende, nicht alles war, was mich hierhergerufen hatte.
Ich fühlte den Stein in meiner linken Hand und wusste, dass er in das Zentrum der Wüste gehörte, ohne zu begreifen, woher er plötzlich kam. Aus meinem Herzen, glaubte ich zu ahnen.
Und ich stand auf, sah in die Weite und war gespannt, was die Wüste mir zu erzählen hatte, was sie mit mir vorhatte, was sie mir schenken wollte und ob ich nicht letzten Endes in ihrem Zentrum von einer großen, roten Sonne zu Asche verbrannt werden würde.

~ Fortsetzung folgt ~

Rote Sonne


Erde zu Erde
Der Ruf der Wüste
Die Reise in die Wüste – Teil 1
Die Reise in die Wüste – Teil 2 (In Arbeit)
Im Zentrum der Wüste (In Arbeit)
Endzeitimpressionen – Fotogalerie


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