Hunger | Kurzgeschichte 2


Lange lag ich auf dem Rücken. Dann auf dem Bauch. Dann wieder auf dem Rücken. Über mir hörte ich das Knirschen des Holzes des Sarges unter der Last der Erde und immer mal wieder glaubte ich ein Klopfen zu hören. Und obwohl ich jedes Mal wusste, dass sich mein totes Gehirn nur etwas einbildete, schöpfte ich für eine Sekunde Hoffnung; endlich ausgegraben zu werden, endlich Zeuge zu werden, wie der erste Mensch der Welt von den Toten auferstehen würde – ich selbst.
Man könnte meinen, ich würde den Menschen, die mich begruben, einen Vorwurf machen wollen, doch dem ist nicht so. Ich weiß genau: ich war tot, als sie mich zu Grabe getragen hatten und niemand hätte ahnen können, dass hier unten etwas geschah. Ich selbst verstehe nicht, was genau geschehen war, ich weiß nur:
Plötzlich öffnete ich die Augen und sog mit einem raschen Atemzug so viel Luft in meine Lungen, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Es war ein Großteil der Luft gewesen, die hier unten überhaupt noch übrig war, doch schon beim Ausatmen merkte ich, dass ich sie gar nicht brauchte. Ich atmete weiter, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass etwas davon in meinen Körper gelangte. Es war wie atmen unter Wasser, es war wie Atmen im All – nicht dass ich so etwas jemals versucht hatte, zu Lebzeiten.
Aber ich konnte etwas sehen. In der Dunkelheit. Meine Augen funktionierten und nachdem ich minuten- oder gar stundenlang schnell atmend in die Dunkelheit gestarrt hatte, ohne mich weiter zu bewegen, konnte ich langsam die Struktur des Holzes über mir erkennen. Kleine Risse zogen sich durch das Holz. Sie waren so klein, dass man sie eigentlich mit bloßem Auge nicht erkennen hätte können; jedenfalls hätte ich das nicht, als ich noch gelebt hatte. Ich streckte die Arme aus und berührte das Holz – den Deckel des Sarges, in dem ich eingeschlossen in der Dunkelheit lag.
Fror ich? Fragte ich mich selbst, doch ich merkte, dass ich gar nichts fühlte. Und dann versuchte ich mich zu erinnern. An das Leben. An mein Leben. Doch da war nur Dunkelheit und die eisige Gewissheit tot und erkaltet unter der Erde zu liegen. Wenn ich mein Leben nicht kannte, woher wusste ich dann, dass es vorbei war? Woher wusste ich, wo ich war? Wusste ich wer ich war oder wer ich gewesen war?
Ich wusste es nicht. Aber bitte denkt jetzt nicht, dass mich das besonders traurig gemacht hätte. Genaugenommen hatte es mich kein bisschen berührt. Ich dachte an das Leben und ich dachte an den Tod. Aber ich fühlte nichts. Nichts zu fühlen erschien mir als vollkommen normal. Irgendwo in den Abgründen meiner Seele versuchte sich etwas zu melden, etwas zu wehren, zu schreien und zu behaupten, dass es doch am Ende nur um Gefühle ging. Dass die Welt nur als einziges großes Gefühl existierte. Liebe. Ich konnte mit diesem Wort nichts anfangen. Und auch mit all den anderen nicht. Hass, Wut, Begierde, Eifersucht, Freude, Glück, Enttäuschung: All das erschien mir wertlos, bedeutungslos, als bestünde die Welt aus etwas… höherem.
Ich kann es schlecht erklären. Ich glaube, mein Tod hatte Auswirkungen auf meine Fähigkeiten mich zu artikulieren. Ich hatte bemerkt, wie mir Wörter fehlten, wie ich mir selbst etwas in Gedanken begreiflich machen wollte, doch wie mir der passende Ausdruck fehlte. Und nun versuche ich euch zu erklären, wie es sich anfühlt nichts zu fühlen? Kann man das überhaupt adäquat erklären? Ist das nicht eigentlich ein Widerspruch in sich?
Ich spreche nicht von der depressiven Unfähigkeit etwas nicht fühlen zu können, was tief in einem vergraben ist. Eine Unfähigkeit, die aus der Verdrängung und der Angst heraus geschieht. Angst! Ich hatte ganz vergessen die Angst zu erwähnen.
Ich hatte keine. Seit ich die Augen geöffnet hatte, nach meinem Tod, war ich angstfrei. Ich erinnerte mich zwar nicht an mein Leben, doch ich wusste: es war voller Angst. Leben ist Angst.
Wieder muss ich versuchen mich zu erklären und zu rechtfertigen, nicht weil ich Angst vor einem Missverständnis hätte, sondern eher weil ich den Anspruch an mich selbst habe, es perfekt zu erzählen: Ich habe nichts gegen das Leben. Auch wenn ich es nehmen muss, hin und wieder. Es fehlt mir nur nicht. Und ich glaube: der Welt fehlt es auch nicht. Als sie lebte, da war sie Drama. Jetzt ist alles ruhig und friedlich, still und leise versinkt sie in Dunkelheit und niemanden stört es – bis auf die Lebenden natürlich.
Ich war bei den Gefühlen stehengeblieben: Ich kannte sie nicht mehr und lag dort im Dunkeln. Die Hoffnung endlich ausgegraben zu werden, immer wenn ich mir einbildete ein Klopfen zu hören, war viel weniger eine Hoffnung, als vielmehr der Wunsch dem Verlangen nachzugeben, das als einziges noch existierte: Hunger.
Wieso ausgerechnet dieses Verlangen übriggeblieben war, war mir bis dato ein Rätsel. Doch ich spürte, wie mich mit jedem Herzschlag, der verging (auch wenn mein Herz nicht schlug), mehr der Drang überkam essen zu müssen. Mich auszugraben und zu essen. Doch etwas lag hinter diesem Verlangen, was ich in dem Moment noch nicht verstanden hatte. Zugegeben: ich hatte auch nicht darüber nachgedacht. Das passierte erst im Laufe der Tage, die ich eingesperrt in meinem Sarg verbrachte. Oder waren es Wochen? Ich weiß es, um ehrlich zu sein, nicht genau, denn Zeit hatte für mich keine Bedeutung mehr: mein Körper verfiel nicht weiter, die Zellen teilten sich nicht weiter, es gab keinen Stoffwechsel, keinen Atem und keine Energiebereitstellung. Ich dachte kurz daran, woher die Energie denn dann kam. Diejenige, die ich zum Denken brauchte. Oder um mich zu bewegen. Wie es sein konnte, dass meine Muskeln imstande waren Bewegungen auszuführen. War Energie nicht unabdingbar? Notwendig um alles am Leben zu erhalten, in Bewegung zu halten.
Ich kann euch das nicht erklären, da muss ich mal wieder ganz ehrlich sein und mit den Schultern zucken. Und das klappt ohne Anstrengung. Energie hat wohl doch einen ganz anderen Ursprung, als wir immer dachten.
Es ist auch egal. Alles war egal. Bis auf den Hunger. Dieser wurde eines Tages so groß, dass ich die Anstrengung begann, gegen das Holz zu schlagen. Ich frage mich, warum ich so spät erst auf die Idee kam, denn schließlich hatte ich ja keine Angst. Und nichts zu verlieren.
Erst klopfte ich nur. Und schrie. Dabei bemerkte ich, dass es schwierig für mich war, Laute zu artikulieren. So klar meine Gedanken auch waren, so unkenntlich waren die Geräusche, die aus meiner Kehle drangen.
Dann begann ich dagegen zu schlagen bis ich blutete und hier begriff ich ein weiteres Mal, dass Energie fließen musste. Unbekannte, dunkle Energie. Mein Blut war dick und dunkelrot, es war zäh wie Schleim und klebrig.
Und ich spürte nichts. Keinen Schmerz. Keinen Ekel. Es schien, als wären die Nerven meiner blutenden Hände nicht mehr mit meinem Gehirn verbunden.
Also schlug ich weiter. Bis irgendwann der erste größere Riss auftauchte.
In meinem Kopf explodierte etwas, als zum ersten Mal der Geruch frischer Erde durch das zerbrochene Holz drang. Und mit ihm der Geruch nach etwas, von dem ich mir ersehnte, es in den Händen halten zu können: Leben.
Stöhnend und schnaufend (nicht vor Anstrengung) und blutverschmiert, mit Erde bedeckt und (vermutlich) nach Leiche und Verwesung stinkend, kroch ich aus meinem Grab. Es dämmerte gerade, die Nacht brach an und es fiel mir viel leichter mich aufzurichten, als ich gedacht hatte.
Ich kann sagen: obwohl ich nichts fühlte, freute ich mich über den Anblick der Welt. Ich hatte erwartet auf einem Friedhof zu stehen, doch ich fand mich auf einer weiten, hohen Wiese wieder, das Kleefeld in wunderschönes Abendrot getaucht, neben mir ein Wald, aus dem liebliches Vogelgezwitscher klang und etwas weiter weg das Rauschen eines Flusses. Hach, es war so schön. Hätte ich vielleicht gesagt, wäre ich ein Mensch und am Leben gewesen. Doch für mich war es einfach nur da. Und all dieses Schöne war nur deswegen wundervoll, weil es nach Nahrung roch. Überall. Und ich Hunger hatte. Unbändig knurrte mein Magen. Natürlich knurrte er nicht wirklich, aber in meinem Kopf knurrte er. Vor Verlangen. Nicht dem Verlangen zu essen, wie mir in diesem Moment klar wurde, sondern von dem Verlangen Leben zu nehmen und es mir einzuverleiben.
Eigentlich ist meine Geschichte hier vorbei. Danach passierte nicht mehr viel, nur noch das was ihr hier sehen könnt: ich sitze in der Dunkelheit und Kälte aber sehe alles und friere nicht. Blutverschmiert, nicht nur mit meinem eigenen. Die Welt stirbt und das ist gut so. Entsetzt und starr vor Angst habt ihr mir zugehört, vielleicht angewidert die Mundwinkel verzogen, doch nicht begriffen, dass es immer das war, was tief in jedem von uns schlummert: die Gier danach, uns über alles und jeden zu stellen, zu erheben, zu herrschen und zu unterwerfen, zu töten, zu essen, zu fressen und uns das Leben jedweder Art einzuverleiben. In der Hoffnung, dadurch etwas mehr zu leben und etwas weniger zu hungern.

(Dark Passenger, Oktober 2014)



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2 Gedanken zu “Hunger | Kurzgeschichte

  • Johanna

    Deutsch ist nicht meine Muttersprache und ich bin froh, mein Deutsch durch Lesen zu verbessern. Die Kurzgeschichte ist sehr scharfsinnig.Während des Lesens besteht eine bedrückende Atmosphäre und ich war ungeduldig zu sehen, wie die Geschichte endet.Ein solches philosophisches Ende habe ich überhaupt nicht erwartet. Ich mag sehr Geschichten über menschliche Natur, über das Leben.Geschichten, die zum Nachdenken anregen. Wir sind Menschen, die immer Hunger haben und wir sind nie zufireden mit dem, was wir haben.
    Danke für diese Kurzgeschichte!

    • Alex Autor des Beitrags

      Danke für den Kommentar, Johanna! Ich freue mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt :) Wie hast du die denn ausgegraben? Sie ist ja doch schon etwas älter :D Ich muss gestehen, dass ich mit dem Ende selbst selbst gar nicht soooo zufrieden war, aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich wollte aus der Geschichte mal eine längere Geschichte machen, aber bin leider nie dazugekommen das umzusetzen.
      Auf jeden Fall toll, dass du zum Lernen der Sprache liest – ich denke, das ist eine sehr gute Methode, und dein Deutsch klingt schon sehr gut, finde ich :)